„Nachtschatten“. Violett wie der Tod
Regisseure, Kameraleute sowie Autorinnen und Autoren kommen und gehen, aber ein Name steht in jedem Vorspann der Usedom-Krimis: Colin Towns. Nicht alle zehn Episoden konnten den hohen Standard der Reihe halten, doch die Musik von Towns war stets herausragend und hat maßgeblich dazu beigetragen, dass sich die Filme durch eine ganz spezielle Stimmung auszeichnen. In „Nachtschatten“ veredelt er die gleichfalls meist exzellente Kameraarbeit (diesmal Dominik Berg) durch Kompositionen, die die Geschichte größer erscheinen lassen, als sie eigentlich ist: Nach einer Party mit Drogen und Alkohol wird ein Sechzehnjähriger leblos in einer Sauna gefunden. Wegen der lauten Musik hat niemand seine Hilferufe gehört, als der Raum überhitzte. Im Verlauf der wilden Nacht haben sich zwei junge Männer wegen eines Mädchens gestritten. Der eine, Florian (Jascha Baum), ist nun tot, der andere ist Ben (Emil Belton), der Großneffe von Karin Lossow (Katrin Sass). Für Staatsanwalt Brunner (Max Hopp) ist der Fall damit bereits so gut wie gelöst; erst recht, als sich herausstellt, dass Florian das Mädchen vergewaltigt hat. Allerdings ist der junge Mann nicht der einzige, der am Körper von Felice (Lea Freund) seine DNS-Spuren hinterlassen hat.
Foto: Degeto / Oliver Feist
Zu Beginn des Schlussdrittels geht dem Film ein bisschen die Luft aus, als wollten die Autorin Dagmar Gabler und der Regisseur Felix Herzogenrath Ruhe vor dem Sturm signalisieren. Ungebrochen intensiv bleibt jedoch der persönliche Konflikt, der schließlich dazu führt, dass sich Felice eine Waffe besorgt. Außerdem mischt noch Bens Vater mit: Rainer Witt (Till Firit) ist ebenfalls Polizist, will natürlich nicht tatenlos bleiben und überschreitet prompt seine Kompetenzen, weshalb Ellen Norgaard (Rikke Lylloff) ihn mehrfach verwarnen muss. Ansonsten hat die Kommissarin diesmal wenig zu tun, sodass sie fast zur Nebenfigur wird. Da es Lossow kaum besser ergeht, rücken automatisch die beiden Jugendlichen ins Zentrum. Lea Freund, Hauptdarstellerin des deutsch-deutschen Kinodramas „Zwischen uns die Mauer“ (2019), hat zuletzt die Episodenhauptrolle in der „Zürich-Krimi“-Episode „Borchert und der Tote im See“ (2020) gespielt und dort als Patenkind des Helden für frischen Wind gesorgt. Während sich Emil Belton bis hin zum Wutschnauben vor allem in der Schublade „zorniger Junger Mann“ bedient, verkörpert Freund glaubwürdig die seelischen Nöte einer jungen Frau, die nur bruchstückhafte Erinnerungen an die fatalen Ereignisse der Nacht hat.
Nach bewährtem Muster setzt Herzogenrath in seinem ersten Film für die Reihe mit Hilfe von Smartphone-Videos und Rückblenden nach und nach zusammen, was sich zugetragen hat. Gerade auf dieser Ebene ist die Lichtgestaltung faszinierend, wenn sich beispielsweise das nächtliche Violett der Strandbilder in den Aufnahmen der Party wiederfindet. Ungeschnittene längere Kamerafahrten zu Beginn wirken ohnehin wie ein Sog, der in die Geschichte hineinzieht. Reizvoll ist auch das atmosphärische Konzept: Die Gegenwart erzählt Herzogenrath in ruhigen Bildern; Lärm und Dynamik gibt es nur in den Rückblenden, clevere Auslassungen steigern die Spannung. Das Drehbuch sorgt wiederum dafür, dass Freunde der Reihe Anknüpfungspunkte bekommen: Karin Lossow bringt Vater und Sohn in der Wohnung des Schwiegersohns unter, der sich „eine Auszeit“ genommen hat; ein Foto erinnert an den Tod ihrer Tochter. Außerdem will Ben wissen, wie das damals war, als sie ihren Mann erschossen hat; mit ihrer Entlassung nach verbüßter Haft hat die Reihe 2014 begonnen. Bei Ellen Norgaard wiederum schürt Gabler clever die Neugier auf den nächsten Film: Die Kommissarin ist schwanger; der Film verrät jedoch nicht, von wem.
Foto: Degeto / Oliver Feist
Schmerzgrenze. Von der Bedeutung des Marginalen
Die Handlung der anschließenden Episode, „Schmerzgrenze“, setzt viele Monate später ein, die Geburt von Norgaards Baby steht kurz bevor, die Kommissarin ist im Mutterschutz. Im Vorspann wird Rikke Lyllof zwar noch an zweiter Stelle geführt, aber im Grunde ist ihre Rolle verzichtbar. Rainer Witt hat die Vertretung im Kommissariat übernommen und schaut gelegentlich bei der Kollegin vorbei, um sich mit ihr über den jüngsten Fall auszutauschen. Episodenhauptrolle ist Staatsanwalt Brunner, was schon deshalb eine gute Idee ist, weil Max Hopp den blasierten Juristen von einer ganz anderen Seite zeigen darf. Die Handlung beginnt mit einem Besuch Brunners bei seiner dementen Mutter. Sie lebt in einem luxuriösen Seniorenheim, ihr Mittagsmahl wird eigens von einem italienischen Spezialitäten-Service geliefert. Der Staatsanwalt hat ein Verhältnis mit Pflegedienstleiterin Matthies und keine Ahnung, dass die Frau das Essen der alten Dame genüsslich vor deren Augen zu verzehren pflegt. Nach dem Tod der Mutter entdeckt Brunner Hämatome an ihrem Körper. Am selben Tag wird er in einem anonymen Schreiben vor Matthies gewarnt. Zur Rede stellen kann er sie nicht mehr, denn sie ist verschwunden, und das offenbar nicht freiwillig, wie das Blut in ihrer Wohnung verrät; kurz drauf wird ihre Leiche im polnischen Teil Usedoms gefunden.
Soundtrack:
(2) Vicky Leandros („L’amour est bleu“), Izzie Yardley („On The Tide“);
(3) Johann Strauss („An der schönen blauen Donau”), DMX („X Gon’ Give It To Ya“), Romano „Stahlraum“)
Foto: Degeto / Oliver Feist
In der Aufwertung der Figur Brunners liegt gerade für Freunde der Reihe der große Reiz des Films. Der Staatsanwalt flüchtet vor den neugierigen Medienvertretern ausgerechnet zu seiner früheren Chefin. Lossows Begeisterung hält sich zwar in Grenzen – „So weit geht die Feindschaft nicht“ –, aber sie gewährt ihm trotzdem Asyl im Büro des Wisentgeheges, in dem sie arbeitet. Brunner wird angesichts seiner mehrfachen Trauer um die Mutter und die Freundin, die sich als Sadistin entpuppt hat, tatsächlich zum Sympathieträger. Dafür sorgen auch kleine Ideen wie jene, als er einem ausgestopften Wolf, der ihn misstrauisch beäugt, einen Schal über den Kopf legt. Autor ist diesmal Michael Vershinin, der gemeinsam mit Scarlett Kleint und Alfred Roesler-Kleint die ersten sieben Drehbücher geschrieben hat. Dank der Verknüpfung mit einem ganz anderen Fall wird der Film auch für Zuschauer ohne größeren Bezug zum „Usedom-Krimi“ interessant: Lossow findet heraus, dass der Essenslieferant (Lutz Blochberger) bis vor zwei Jahren im Gefängnis war. Er hatte das Baby seiner Tochter zu Tode geschüttelt; zuständiger Staatsanwalt war damals Brunner. Wie Vershinin diese alte Geschichte mit der Suche nach dem Matthies-Mörder kombiniert, ist eindrucksvolle Krimikunst. Brunner selbst liefert mit seiner Interpretation des Bildes „Landschaft mit Sturz des Ikarus“ den Schlüssel: „Häufig kommt es nicht auf das Offensichtliche an, sondern auf das Marginale.“ In dem Bruegel-Werk ereignet sich der Absturz des Höhenfliegers nicht etwa im Zentrum, sondern ganz am Rand des Gemäldes.
Regie führte die im Krimi-Genre erfahrene Maris Pfeiffer. „Schmerzgrenze“ mag nicht besonders spannend sein, aber diese Erwartungen hat die Reihe ohnehin nur selten erfüllt. Die Bildgestaltung besorgte Alexander Fischerkoesen. Beide haben sich die typische Anmutung der „Usedom-Krimis“ perfekt angeeignet, und das nicht nur wegen der schönen Herbstmomente; auch diesmal entfaltet die Insel wieder jenen herben Charme, die viel zur Unverwechselbarkeit der Reihe beiträgt. Treffendstes Bild des Films ist eine Einstellung, die Brunner einsam und windumtost auf einem Campingstuhl am Strand zeigt; ausgerechnet der stets so überhebliche Jurist ist die tragische Figur dieser Geschichte. Die vorzügliche Musik von Towns bedarf dagegen fast keiner Erwähnung mehr.
Foto: Degeto / Oliver Feist
„Vom Geben und Nehmen“. Wenn Worte töten
Der Abschluss der Trilogie, „Vom Geben und Nehmen“, ist mehr Drama als Krimi. Ellen Norgaard hat ihr Baby zur Welt gebracht ist nun in Elternzeit. Mit dem Fall hat sie nichts mehr zu tun, sie fungiert nur noch als Beziehungsberaterin für Lossow, deren Freund, der polnische Polizist Gadocha (Merab Ninidze), für zwei Jahren nach Stockholm umsiedeln möchte. Hauptfigur der Geschichte ist eine Frau, der Marija Erceg in ihrem dritten Drehbuch für die Reihe zu einem Comeback verhilft: In „Mörderhus“ (2014) war Simone Braydon-Eggebrecht (Caroline Redl) die unangenehme Gattin eines Lokalpolitikers. Sechs Jahre später ist die sitzengelassene Frau bloß noch ein Wrack. Ihr einziger Lebensinhalt neben dem Alkohol ist ein Hotelprojekt: Sie will Menschen mit Behinderung „Urlaub auf Rädern“ ermöglichen. Das Bauvorhaben wird jedoch immer wieder sabotiert. Sie ist überzeugt, dass Enno Littmann (Jörg Witte) dahintersteckt, ein Geschäftsmann und Parteifreund ihres Ex-Mannes, der keine Lust hat, dass „sabbernde Krüppel“ das Straßenbild rund um seine Läden beeinträchtigen.
Selbst wenn zwischendurch ein Mitarbeiter von Braydon-Eggebrecht spurlos verschwindet (seine aus dem Wasser gefischte Leiche weist jedoch keinerlei Spuren von Fremdeinwirkung auf), mag das auf den ersten Blick für einen abendfüllenden Krimi ein bisschen wenig sein. Doch warum nicht mal ein Drama am Krimi-Donnerstag erzählen? Und so geht es im 13. Film der Reihe nur am Rande darum, ein Verbrechen aufzuklären. Eine gewisse Spannung resultiert allerdings aus der Frage, was den jungen Mann bewogen hat, ins Wasser zu gehen. Interessanteste Figur neben der zentralen Rolle, die Caroline Redl sehr konsequent als vor der Zeit verblühte Ex-Gattin verkörpert, ist deren unter Muskelschwund leidende Freundin Wiebke. Julia Hartmann spielt diese Frau, die nur noch ihre rechte Hand bewegen kann, als personifizierten Sarkasmus. Was Wiebke mit der Geschichte zu tun hat, offenbart Erceg erst gegen Ende, aber sie ist wichtig für die Handlung, weil nicht nur Witt von ihr fasziniert ist; auf diese Weise kommt der Gastkommissar mal aus dem Büro raus. Brunner hingegen ist wieder ganz der Alte und genießt die Rache am unsympathischen Parteifreund Littmann, der ihn jahrelang daran gehindert hat, Karriere als Kommunalpolitiker zu machen. Wer der Vater von Norgaards Baby ist, bleibt allerdings ebenso offen wie die Zukunft von Lossow und ihrem Freund. Da heißt es warten auf die nächsten Episoden… (Text-Stand: 11.10.2020)