Einen Politiker haut es aus der Kurve
Johannes Größt, Oberbürgermeister einer mittelgroßen Stadt, befindet sich schon lange nicht mehr auf der Siegerstraße. Schlechte Werte auf der ganzen Linie. Der Mann ist (amts)müde, politisch unter Druck, ausgebrannt – und nach einem Verkehrsunfall liegt er kurz vor den Wahlen auch noch im Wachkoma. Es kommt nicht von ungefähr, dass er sich in eine dissoziative Störung flüchtet: offenbar will Größt raus aus diesem Narrenhaus. Seine Frau Erika hofft schon längere Zeit, dass ihr Mann endlich kürzer tritt. Sie ist einsam geworden an der Seite dieses Provinzpolitikers, der sich aus kleinen Verhältnissen hochgearbeitet hat. Der Unfall wäre die Chance für einen Neuanfang. Denn Größt hat unverschämtes Glück gehabt. Während die Spekulationen über die Hintergründe des Unfalls und das Geschachere um seine Nachfolge in vollem Gange sind, lässt der OB nach wenigen Tagen Fugue Fugue sein und verlässt unter großem Beifall das Krankenhaus. „Ich hör auf“, teilt er alsbald dem Fraktionschef mit. Aber bleibt es bei seiner Entscheidung? Größt ist schließlich Politiker.
Hartmut Schoen über die zwei Seiten eines Politikers:
„Wie erleben Familien, Ehefrauen von Politikern diesen Beruf? Ist es nicht so – die tatkräftige, erfolgreiche Seite ist für die Öffentlichkeit, und das Übrige, die Depressionen, die Angst, das ist dass für die Angehörigen?“
Verloren in der politischen Tretmühle
Vom Getrieben-Sein eines ausgebrannten Provinzpolitikers erzählt Hartmut Schoens ARD-Fernsehfilm „Unverschämtes Glück“. Das gesellschaftliche Leben als ein Räderwerk, das von Politik und Medien mit den immergleichen Ritualen in Gang gehalten wird. Die Automatismen, die greifen, wenn ein Amtsinhaber die ausstehenden Wahlen zu verlieren droht oder wenn Skandälchen gedeckelt werden müssen. Das Kalkül, das die Partei antreibt, wenn das Schicksal dem sicheren Verlierer in die Hände spielt. Der Wunsch, mit dem Gewinner im Licht zu stehen; der Antrieb, den Verlierer fallen zu lassen. Und dann diese Praktikantin, die den Mythos vom (vermeintlich) geilen Politiker-Bock beleben darf. Das alles ist der gut recherchierte Hintergrund, auf dem der vierfache Grimme-Preisträger (Schoen hospitierte beim OB in Konstanz) seine Geschichte entwirft. Das Schmierentheater der Provinzpolitik ist aber nur die Bühne für das persönliche Drama jenes Johannes Größt, der seinem Namen schon längst keine Ehre mehr macht. Der Unfall lässt die Unbarmherzigkeit der politischen Tretmühle besonders deutlich werden. Der Zynismus der Strippenzieher, das Taktieren der Pöstchenjäger, die Geseiere der Schmeichler, die Distanzlosigkeit der Masse. Das muss selbst einen scheinbar robusten Menschen wie den bodenständig unverstellten Handwerkersohn verschleißen. Armin Rode bringt einem diesen vereinsamten Mann schmerzhaft nahe. Aus jeder Pore schwitzt seine Vita, mit jeder Geste, jedem Satz bringt er einem diesen zutiefst tragischen Menschen nahe. Und sein Gesicht gleicht nach dem Unfall einem zerfurchten Acker, leblos seine Augen, leer sein Blick, sein Lächeln maskenhaft schmerzverzerrt.
Verblasste Schönheit, wilder Feger
Es ist an den Frauen, die Welt der vornehmlich schwitzenden Anzugträger versuchsweise aufzubrechen. Sie stehen im Schatten der Macht. Der von Allergien geplagten OB-Gattin, der es immer schwerer fällt, lächelnd die Frau „an seiner Seite“ zu geben, stellt ihn schließlich vor die Wahl: Sie oder die Politik. Viele Jahre hat sie sich zurückgenommen und hat schon lange kein eigenes Leben mehr. Sie ist neben ihrem Mann geradezu unsichtbar geworden. Und dann macht sie ihm die Rechnung auf. Ein halbes Jahr hat sie Buch geführt, erschreckend die Bilanz: in 180 Tagen 170 Oberhemden gewaschen, aber keine Liebe, kein Sex. Stattdessen unzähligen nach Rasierwasser riechenden Speichelleckern, die sich wichtig vorkommen, die Hände geschüttelt. Katja Flint als bleiche, sichtlich ermattete Ikone verblühter Schönheit verleiht dieser Figur bei aller Zurückgenommenheit eine große sinnliche Präsenz. Ein ganz anderes Frauenbild verkörpert die junge Praktikantin, „wild“ und vieldeutig von „Hingucker“ und Ophüls-Preis-Gewinnerin Lore Richter („Mann/ Frau“) verkörpert. Sie wird sich nicht sinnlos verbrauchen für die Liebe. Sie nimmt sich, was sie kriegen kann; und wer ihr blöd kommt, dem zahlt sie es doppelt zurück. Mit solchen Frauen haben es die, die das Sagen haben, in diesem konservativ kleinstädtischen Rathaus bisher nicht zu tun bekommen.
Katja Flint über die Appell-Option der Geschichte:
„Hartmut Schoen erzählt eine universelle Geschichte, die über das Thema Politik, Macht, Frau im Schatten weit hinausgeht. Nach diesem Film werden sich Viele die Frage stellen: Gibt es nicht auch bei mir Dinge, die ich dringend ändern sollte?“
Hamsterräder nicht nur in der Politik
Die Einschüchterungsmethoden nach Altväter Sitte verfangen deshalb auch nicht länger. Alexander Held, der nicht umsonst Anfang 2015 für den Grimme-Preis nominiert wurde, gibt den Obermacker im Politbetrieb der Provinzstadt. Sein Dr. Harry Hindenach ist der, der in diesem Parteienzirkus als eine Art Westentaschen-Machiavelli mit Mephistopheleschem Gestus die Strippen zieht. Er ist die einzige Figur, die es gelegentlich mit Rhetorik versucht. „Unverschämtes Glück“ führt den Zuschauer nicht – wie einst Breloer – ins Hinterzimmer der großen Politik, entwirft auch kein elegantes Gesellschaftsdrama mit ironiebeseelten Intellektuellen und charismatischen Spielern wie in „Männertreu“, sondern zeigt Politiker als Ego-lose Malocher vor dem Volke und als stillose Kleinbürger, denen der Angstschweiß auf der Stirn steht, sobald Machtverlust droht. Lebensbilanz ziehen kann da schnell zum schmerzhaften Offenbarungseid werden. Hartmut Schoens an Subtexten reicher Film ist denn auch in erster Linie ein Lebensweg-Drama, die Geschichte eines Provinzpolitikers, der zerrissen ist zwischen Partei und Privatleben. Und wer gern – so altmodisch das auch sein mag – einen Mehrwert fürs eigene Leben aus Filmen zieht, der kann die Tretmühle des Berufspolitikers durchaus auf das eigene Hamsterrad übertragen. (Text-Stand: 28.2.2015)