Westliche „Heuschrecke“ zwischen dem bunten Völkchen der Einheimischen
Gombrowski (Thomas Thieme) steht unbeweglich da, ein Brocken von Mensch, der nachdenklich über das weite Getreide-Feld blickt, dann mit den Fingern den Reifegrad des Weizens prüft. Der Geschäftsführer der Ökologica GmbH, einst LPG Gute Hoffnung, ist der einflussreichste Mann in Unterleuten, einem kleinen Ort im brandenburgischen Nirgendwo. Berlin ist nicht weit und scheint zugleich auf einem anderen Planeten zu liegen. Die Unterleutner regeln ihre Angelegenheit selbst, man lässt sich nicht gern reinreden und wundert sich über Zugezogene, die von Berlin aufs Land flüchten oder sich wie Linda Franzen (Miriam Stein) eine Existenz als Pferdezüchterin aufbauen wollen. Dafür benötigt sie noch etwas mehr Land, das sie gerne vom bayerischen Geschäftsmann Meiler (Alexander Held) erwerben möchte, der kürzlich aus einer Laune heraus Teile des Lands um Unterleuten herum kaufte.
Schöne Landschaft und Sommerhitze ohne Schweißflecken
Auf den Alteingesessenen lastet das Erbe der DDR, offene Rechnungen aus der Zeit der Zwangskollektivierung und der Wende, sowie das Gefühl, nach dem Triumph des kapitalistischen Westens abgehängt worden zu sein. Die neuen Einwohner wiederum bringen eine völlig andere Weltsicht mit, wollen Träume verwirklichen und zu sich selbst finden. Wie der Alt-Linke Gerhard Fließ (Ulrich Noethen), ein ehemaliger Berliner Soziologie-Dozent, und seine deutlich jüngere Frau Jule (Rosalie Thomass), für die sich nach der Geburt der kleinen Sophie alles um ihr Baby dreht. Ihr Mann setzt seinen politischen Kampf fort, indem er als Vogelschützer gegen Bauvorhaben zu Felde zieht – womit er sich auch nicht nur Freunde macht. Die Schönheit der Landschaft, die die Kamera von Theo Bierkens immer mal wieder einfängt, kontrastiert in „Unterleuten“ mit einer Atmosphäre des gegenseitigen Misstrauens. Dass es „der heißeste Sommer seit Jahren“ ist, wie eine weibliche Stimme aus dem Off zu Beginn verkündet, wird allerdings kaum einmal wirklich sichtbar. Erhitzte Gemüter gibt es bald zu Genüge, doch zu sauber, ohne Schweißflecken und flirrende Hitze, sehen dieses Unterleuten und seine Bewohner zur Erntezeit aus.
Vattrodt/Geschonneck – ein bewährtes Team für Filme mit großer Genauigkeit
Juli Zehs Bestseller zeichnet sich durch seinen beständigen Perspektivwechsel aus: Der Roman ist geschrieben aus der Sicht von elf Personen, die als Erzählerinnen und Erzähler abwechselnd die Handlung vorantreiben. Eine radikal moderne Umsetzung wie zum Beispiel in der belgischen Serie „24 Hours – Two Sides of a Crime“, die eine Geiselnahme abwechselnd aus Täter- und aus Geisel-Sicht erzählte, wäre hier wohl angesichts der Vielzahl der Figuren und Handlungsfäden verwirrend aus dem Ruder gelaufen. Stattdessen vertraut das ZDF auf ein erfahrenes und bewährtes Team, das für Filme mit großer Genauigkeit, konzentrierter Atmosphäre und einem besonderen Gespür für Figuren und menschliche Konflikte steht. Und so halten es Drehbuchautor Magnus Vattrodt und Regisseur Matti Geschonneck, die für ihre Filme „Liebesjahre“ und „Das Ende einer Nacht“ jeweils mit Grimme-Preisen ausgezeichnet wurden, auch hier. Nach ihrem gemeinsamen Film „Südstadt“ geht es nun also von der Stadt aufs Land. Hier hasten keine Menschen über die Straßen, hier kennt jeder jeden, hier kann niemand unbemerkt über das Kopfsteinpflaster der Dorfstraße spazieren. Das Tempo ist nicht allzu hoch, was durchaus zum ländlichen Schauplatz passt.
Drehbuch-Autor Magnus Vattrodt über das Grundprinzip der Charaktere:
„Wie im echten Leben hat jede Figur ihren eigenen Blick auf das, was geschehen ist und geschieht, und jeder glaubt sich mit seiner Weltsicht und seinen Überzeugungen im Recht und im Reinen. Was am Ende wirklich geschah, bleibt dabei oft in der Schwebe – was dem Roman Tiefe gibt, im filmischen Medium allerdings ungleich schwieriger zu vermitteln ist. Im Film sieht man etwas – oder eben nicht. Dennoch die Grauzonen zwischen Gewissheit und Zweifel zu erhalten, gehörte sicher zu den erzählerischen Herausforderungen der Adaption.“
Dieses Prinzip wird am Ende vom Erzähler benannt: „Und jeder erzählte seine eigene Geschichte. Und jeder glaubte sich im recht. Und jeder hatte seine Gründe.“
Thomas Thieme als Gombrowski – die perfekte Besetzung
Geschonneck und Vattrodt verzichten auf Rückblenden, deswegen gibt es den einen oder anderen Erklär-Dialog. Doch vieles bleibt zu dezenter Musik unausgesprochen, man sieht in bisweilen langen Einstellungen in die Gesichter, in denen sich Zweifel, Misstrauen, Unverständnis oder gar Hass abzeichnen. Und wenn Gombrowski am Rand des Feldes in die Weite blickt, steckt in dieser Szene ein ganzes Leben. Er schaut auf den ehemaligen Besitz seiner Familie, der in den 1960er Jahren in der DDR zwangskollektiviert wurde, den er sich aber nach der Wende zurückholte, indem er die Abwicklung der LPG an sich riss und dafür sorgte, dass er Geschäftsführer bei der Ökologica GmbH wurde. Das hat nicht jedem gefallen, andererseits ist der Landwirtschaftsbetrieb das Herz des Dorfes, ohne ihn wäre Unterleuten am Ende. Und Thomas Thieme, der so angsteinflößend und im nächsten Moment so sanft wirken kann, ist mit seiner gewaltigen Präsenz die perfekte Besetzung – und das Herz des Films.
Blockierter Schriftsteller, uneitler Bürgermeister
Gombrowskis Gegenspieler und Intimfeind ist der alte Kron (Hermann Beyer), ein Alt-Kommunist, der die neue Zeit nur mit Zynismus erträgt. Worunter insbesondere seine Tochter Kathrin (Bettina Lamprecht) leidet, eine Pathologin, die eigentlich das ständige Dorf-Gerede satt hat: Aus Gerüchten und Verschwörungstheorien werden auch in Unterleuten schnell Fake News, die die Menschen aufstacheln. Humor hat „Unterleuten“ aber auch zu bieten, in manchen Dialogen und in einer Figur wie Kathrins Mann: Wolfi ist Schriftsteller, brütet aber den ganzen Mehrteiler über allein am Titel seines neuen Bühnenstücks – eine schöne Rolle für Bjarne Mädel. Wolfi bekämpft seine Schreibblockade mit Rasenmähen, und da er meistens blockiert ist, beginnt das selbst den sonst so geduldigen Nachbarn, Bürgermeister Arne Seidel (Jörg Schüttauf), zu nerven. Der ist hier alles andere als das Klischee eines machtgeilen Partei-Funktionärs, sondern ein unaufgeregter, uneitler Mann, der sich einfach für seine Leute und seine Heimat einsetzt – eine positive Figur wie ein Statement in der aktuellen Situation, in der viele Kommunalpolitiker unter Anfeindungen leiden. Seine tragische Vorgeschichte gehört zu den Motiven, die es nicht aus dem Roman in den Film geschafft haben – der literarische Stoff hätte auch für eine zehnteilige, Generationen-übergreifende Serie gereicht. Hier wie dort: Der nationalistische, populistische und rechtsextreme Spuk bleibt außen vor.
Manch eine Figur erreicht nicht die Tiefe des Romans
Nicht aber die Brüche und Risse im gesellschaftlichen Zusammenleben. Juli Zeh verstand es in ihrem Roman, die großen Fragen von Grundbesitz, Strukturwandel und Energiewende mit einer spannenden und berührenden Geschichte im dörflichen und familiären Umfeld zu verbinden. Dabei hat sie alle Figuren fein und differenziert gezeichnet, was insbesondere dem beständigen Perspektivwechsel geschuldet ist. Denn jedes Charakterbild von den elf Hauptfiguren entsteht auch durch die Einschätzung der anderen. Im Mehrteiler gelingt das nicht ganz so gut. Zum Beispiel Schaller (Charly Hübner), der grobschlächtige, wortkarge Automechaniker, der als Nachbar den Vogelschützer und seine Frau mit dem Qualm brennender Autoreifen terrorisiert, bleibt doch deutlich hinter der Tiefe der Romanfigur zurück. Den Motorradunfall, der ihm das Gedächtnis raubte, gibt es im Film nicht, und auch seine bedingungslose Liebe zu Tochter Miriam (Nina Gummich), im Buch die große Antriebskraft seines neu gewonnenen Lebens, wird hier kaum ausgespielt.
„Die Herausforderung, diesem ungewöhnlichen Roman mit seinen komplexen Figuren gerecht zu werden, nicht hinter ihm zurückzubleiben, seine eigenwilligen Charaktere nachvollziehbar zu machen, schließlich nicht zu langweilen. Das ist für alle am Film Beteiligten, das ist für den Regisseur Segen und Fluch zugleich. Drehbuch, Besetzung, dann die Inszenierung: Ich musste mir diese Figuren zu eigen machen, mich von der Vorlage entfernen, um letztendlich wieder zu ihr zurückzukehren.“ (Regisseur Matti Geschonneck)
Aus dem Windkraft-Verkäufer Pilz wird eine Frau
Abgesehen von solchen Kürzungen und Änderungen im Ablauf hält sich Autor Vattrodt an das literarische Gerüst – mit einer Ausnahme: Aus Herrn Pilz von der Firma Vento Direkt, der auf der Dorfversammlung den Bau einer Windkraftanlage ankündigt, wird Anne Pilz (Mina Tander), die sich mit „Pilz wie Champignon“ vorstellt, was leider wie Fernsehen klingt und nicht wie Juli Zeh. Mit Mina Tander kommt zum einen ein Hauch zusätzlicher Erotik ins Spiel, zum anderen der Aspekt einer jungen Karrierefrau in der globalisierten Geschäftswelt. Ihr Auftritt sorgt für beträchtliche Unruhe im Dorf, die Aussicht auf riesige Windkraft-Masten vor der Haustür weckt Ängste und Ablehnung. Allerdings könnte der Bau dem Ort Gewerbesteuer-Einnahmen bringen – und den Landbesitzern eine jährliche Pacht in erfreulicher Höhe. Zwei Eignungsgebiete kommen in Frage: Das eine gehört ausgerechnet Alt-Kommunist Kron, der hinter jeder Veränderung eine Verschwörung von Gombrowski und Seidel wittert. Das andere teilen sich drei Parteien: Gombrowski und Meiler besitzen je acht Hektar, die restlichen zwei gehören „Pferdefrau“ Franzen und ihrem Lebensgefährten (Jacob Matschenz), der als Computer-Nerd in Berlin arbeitet und mit Linda in einem schönen, aber heruntergekommenen alten Hof in Unterleuten lebt. Als Mindestgröße für den Bau von Windkraftanlagen sind aber zehn Hektar vorgeschrieben. Und so beginnt ein Tauziehen, bei dem sich Linda Franzen als clevere und unerschrockene Verhandlungspartnerin erweist.
Starke Frauen und lebendige Ost-Figuren
„Matti Geschonneck entschied sich sehr schnell dafür (er wird sagen, das habe sich so ergeben), die Rollen der Einheimischen mit Protagonisten aus dem Osten zu besetzen und die der Zugereisten mit Westlern“, heißt es im Presse-Statement der Produzenten Reinhold Elschot und Silke Pützer. Sicher hat dies dazu beigetragen, dass gerade die Ost-Figuren lebendig und wenig klischeehaft wirken. Neben Thomas Thieme und Hermann Beyer prägen Christine Schorn, die Gombrowskis still leidender Ehefrau Elena mehr Präsenz und Selbstbewusstsein als im Roman mitgibt, und Dagmar Manzel als Nachbarin und Nebenbuhlerin Hilde Kessler den Mehrteiler. Hilde, die im Roman nicht vor die Tür gehen mag, weil ihr Mann Erik in den Wende-Wirren angeblich von einem Baum erschlagen wurde, hat im Film keine Angst vor dem offenen Himmel und verbarrikadiert sich mit den zahlreichen Katzen auch nicht im eigenen Haus. In die Riege starker Frauen reiht sich außerdem Hildes Tochter Betty (Sarina Radomski) ein, die rechte Hand Gombrowskis bei der Ökologica. „Hätte man die Beziehungsfäden sichtbar machen können, welche zwischen den Anwesenden hin und her liefen, wäre für den Uneingeweihten ein undurchschaubares Knäuel zum Vorschein gekommen“, schreibt Juli Zeh über die Dorfversammlung. Dieses Knäuel zu entwirren, gelingt Vattrodt und Geschonneck durchaus. Es gibt viel zu entdecken im brandenburgischen Nirgendwo. (Text-Stand: 15.2.2020)