Der Ehemann kommt nach Hause. Er findet Essensreste in der Spüle, der Abfluss ist verstopft. Während seine Partnerin oben im Kinderzimmer den Jungen ins Bett bringt, versucht er das Rohr frei zu pumpen. Schmutziges Wasser spritzt aufs Hemd, seine Wut wächst. Als sie in die Küche kommt, gibt es Streit. „Außer Dreck machen bringst Du nichts zustande“, schreit er. Er bedroht sie, drängt sie gegen die Anrichte. Sie greift hinter sich, zieht ein Messer aus dem Block, sticht mehrfach zu, verletzt ihn. Carola Kern (Alexandra Finder) wird sich später vor Richter Rainer Koller (Martin Brambach) wegen Körperverletzung verantworten müssen. Ihre Schwester Doris (Anneke Kim Sarnau) hat mit diesem Richter bereits Erfahrung: Ihr gewalttätiger Mann hatte ihren Körper mit Salzsäure verätzt, wurde aber freigesprochen. Nach Ansicht Kollers hatte er in Notwehr gehandelt. In der Kantine des Justizzentrums werden Dr. Prohacek (Senta Berger) und Langner (Rudolf Krause) Zeuge, wie Doris Kern mit einer Flasche und einem Tablett auf Koller losgeht.
Die Schwestern haben es aber nicht nur mit demselben Richter zu tun, sondern waren (Doris) beziehungsweise sind (Carola) auch mit ein und demselben Mann liiert: Mit Theo Schichter, vom Österreicher Georg Friedrich als schmieriges Scheusal gespielt. Die jüngere Carola verliebt sich in den Mann, mit dem ihre Schwester derart üble Erfahrungen gemacht hat? Wohl auch um dies plausibler erscheinen zu lassen, wird ein bisschen psychologisiert: ein seit der Kindheit schwelender Konflikt zwischen den Schwestern angedeutet. Da verheddert sich das Drehbuch ein wenig in seiner gewagten Konstruktion. Das Verhältnis zwischen den Schwestern ist wichtig für die Dynamik der Handlung: Je deutlicher bei Carola die Naivität Oberhand gewinnt, desto entschlossener greift Doris erneut zu Mitteln der Selbstjustiz.
Am Ende bahnt sich Schichter wie einst Jack Nicholson in „Shining“ mit Gewalt einen Weg durch eine verschlossene Tür, aber die körperliche Aggression kennzeichnet hier nur eine Möglichkeit, Macht über andere auszuüben. Es geht in der Folge „Ein Richter“ vor allem um die Macht der Worte. Richter Koller blickt auf Frauen herab, behandelt sie von oben herab, gefühllos, mit beißender Ironie. Wie erniedrigend Worte sein können, wird hier schmerzhaft spürbar. Kollers schneidende, selbstherrliche Art trifft allerdings auch Widersacher wie Carola Kerns Pflichtverteidiger. In „seinem“ Gerichtssaal entscheidet Koller nach Gutdünken; wer dem Richter mit Einwänden kommt, wird auf die nächste Instanz verwiesen. Der Richter thront über allem – was auch die Bildgestaltung zum Ausdruck bringt. Koller ist „einer von denen, die ganz oben landen, weil sie perfekt in dieses System passen“, bemerkt Langner. Der Richter ist unangefochten, weil er so fleißig ist, weil er die Aktenberge in seinem Büro besonders schnell abarbeitet. Aber er fühlt sich auch bedroht, wohl nicht nur seit Doris Kerns Attacke. Am Gürtel trägt er eine Pistole. Der Film zeichnet das Bild einer aus den Fugen geratenen Justiz, die auf Überlastung mit Ruckzuck-Urteilen reagiert.
Martin Brambach, den man schon in so vielen Komödien-Rollen gesehen hat, ist hier geradezu beängstigend überzeugend. Nicht nur als arroganter Widerling, der Carola Kern im Prozess durch suggestive Fragen dazu bringt, sich stärker zu belasten, als es selbst die irritierte Staatsanwältin in ihrer Anklage formuliert hatte. Sondern auch als manisch arbeitender Mensch, der alles unter Kontrolle haben will. Brambach deutet hin und wieder an, dass diese Figur überfordert und einsam ist. Doch wenn man für einen Augenblick glaubt, jetzt zeige dieser Koller menschliche Züge, kommt wieder der Mann zum Vorschein, der eiskalt manipuliert und sich selbst für unfehlbar hält. Spannend ist dieser Film allein schon deshalb, weil das Drehbuch Stück für Stück mehr über den Richter enthüllt. Koller ist kein klassischer Krimi-Bösewicht, sondern eine tragische Figur am Rande des Wahnsinns.
Allein Brambachs Spiel macht den Film zu einem besonderen Ereignis. Doch auch sonst zählt „Ein Richter“ zu den besten dieser ohnehin starken Reihe. Weil hier aus dem ungewöhnlichen Grundthema (Wer kontrolliert den Richter?), verknüpft mit dem Motiv männlicher Dominanz und Gewalttätigkeit, enormes dramatisches Kapital geschlagen wird. Die Justiz arbeitet unabhängig, aussichtslos scheint es, diesem Richter beizukommen. Prohacek fordert ihn anfangs im Alleingang heraus, erhält dann aber überraschende Rückendeckung von ihrem Vorgesetzten Reiter. Der hängt sein Fähnchen mal wieder in den Wind. Nach dem (realen) Fall Gustl Mollath, der jahrelang unrechtmäßig in einer geschlossenen Anstalt weggesperrt worden war, hat sich die politische Stimmung gedreht. Bei einer Justizreform soll deshalb „ein bisschen mehr Kontrolle“ herausspringen, wie die Staatssekretärin (schön garstig: Lilly Forgách) erklärt. Deshalb käme ihr „so ein kleines abschreckendes Beispiel“ gerade recht.
Das ist eine clevere Art, ein aktuelles Thema aufzugreifen: Denn wir Zuschauer, die wir uns wünschen, dass die Frauen geschützt und der Richter in die Schranken verwiesen wird, werden zu Komplizen des Politik-Stils, der in dieser Reihe regelmäßig aufs Korn genommen wird. Wie üblich wird hinter den Kulissen gemauschelt, werden Parolen aus reinem Kalkül, ohne Überzeugung ausgegeben, sind Karriereabsichten die wahre treibende Kraft. Spezerln-Wirtschaft bleibt Spezerln-Wirtschaft, auch wenn sie mal die richtige Richtung einschlägt. „Ein Richter“ von Mike Bäuml und Martin Weinhart ist ernster als andere Episoden von „Unter Verdacht“ – und Prohacek nicht nur strahlend integer. Sie nimmt Reiters fragwürdige Unterstützung gerne an. Und als sie Richter Koller zu Hause aufsucht und ihn auf eine zurückliegende „seelische Erschöpfung“ anspricht, da wirkt sie unsensibel und selbstgerecht.
Meisterhaft, wie die Inszenierung die Stimmung langsam ins Bizarre, Kafkaeske, Unwirkliche kippen lässt. Bis zu der überraschenden Entdeckung am Ende, in Szene gesetzt wie in einem Gruselfilm (die einsame Frau an der Töpferscheibe in der Dachkammer). Traditionell kommt es bei „Unter Verdacht“ zum finalen Verhör-Showdown, diesmal jedoch nicht im fensterlosen Bunker der internen Ermittlung, sondern im gediegenen Amtszimmer des sich nach einem Hochschul-Job sehnenden Gerichtspräsidenten Dr. Kammlacher (August Zirner): Ein letzter, beklemmender Auftritt von Martin Brambach, den man nicht so schnell vergessen wird.
Eine Antwort
Brambach in Hochform