Deutschland in den frühen achtziger Jahren. Martin Siedler ist glücklich. Mit Anfang 30 ist er Pressechef eines führenden Pharma-Unternehmens, er ist frisch verheiratet und immer noch sehr verliebt in seine Frau Sabine. Für einen Mann mit seiner Biographie ist das alles nicht selbstverständlich. Martin ist Bluter. Wäre er zwei Jahrzehnte früher geboren, wäre er aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr am Leben. Doch seit es Hämoprin gibt, ist seine Lebenserwartung so hoch wie die eines gesunden Menschen. Aus diesem Grund setzte er alles daran, bei Sonne Pharma zu arbeiten und sich engagiert für die Verbreitung des Präparats einzusetzen. Denn er kennt auch das Leiden der Eltern: Sein Bruder ist nach einem Badeunfall früh gestorben. Doch plötzlich verunsichern deutsche Presseberichte und amerikanische Studien die Öffentlichkeit: Nach dem Ausbruch von Aids warnen Fachleute vor einer Epidemie, die auch Blutern das Leben kosten könnte. Denn es ist anzunehmen, dass das aus Blutplasma gewonnenen Blutgerinnungsmittel HIV-Virenträger ist. Der Konzern wiegelt ab. Martin bleibt seiner Firma gegenüber lange loyal. Erst als er bei sich selbst Symptome von Aids zu erkennen glaubt und erfährt, dass es ein geheimes, firmeninternes Dossier gibt über Risiken und mögliche Opfer, wird er aktiv und nimmt den Kampf gegen seinen Arbeitgeber auf. Parallel dazu wächst bei ihm die Sorge um seine Frau und das Kind, das sie erwartet.
Foto: NDR / Christine Schroeder
Der ARD-Fernsehfilm „Unter der Haut“ spürt dem Bluterskandal der 1980er Jahre nach. Über 1400 Bluter wurden damals mit HIV infiziert. Bis heute sind mehr als 1000 von ihnen an den Folgen der Infektion gestorben. Der Film von Friedemann Fromm („Weißensee“) zeichnet – anders als beispielsweise „Contergan“ – die Chronologie des Skandals nur ansatzweise nach. Und im Gegensatz zum ZDF-Film „Blutgeld“ aus dem Jahre 2013 verzichtet er außerdem auf eine überdeutliche modische Verortung im Jahrzehnt der Schulterpolster und Föhnfrisuren. Nur Sekunden werden Hits angespielt und auch die Wohnung des Helden ist nur dezent im 1980er-Style eingerichtet. Das lenkt nicht vom Thema ab und entspricht der Intention der Autoren: „Wir wollten die Mechanismen illustrieren, die Menschen dazu bringen, viel zu lange die Augen vor dem zu verschließen, was eigentlich nicht sein darf“, betont Ko-Autor Volker A. Zahn. Der Bluter-Skandal wurde erst mit zehnjähriger Verspätung politisch aufgearbeitet.
Um die Fehler von Pharmaindustrie, Bundesgesundheitsamt, von Krankenkassen, Politikern und Hämophilie-Ärzten aufzuzeigen und die unseligen Mechanismen deutlich zu machen, die selbstredend hauptsächlich mit Profit zu tun hatten, haben Eva und Volker A. Zahn eine Hauptfigur erfunden, die das Bluter-Medikament zunächst für einen Segen hält und sich anschließend umso klarer dagegen positioniert. Aus dieser Perspektive wird der Zuschauer an den zeitgeschichtlichen Stoff herangeführt. Der Held zieht einen in die Geschichte, die mehr und mehr seine Geschichte wird. Er weiß, wie schwer das Leben sein kann. Zu Beginn des Films ist er offensichtlich einfach nur glücklich. Deshalb kann er sich auch nicht darüber freuen, Vater zu werden. „Die Krankheit sitzt in deinem Kopf und sie bestimmt dein Leben“, schreit seine schwangere Frau ihm die Wahrheit ins Gesicht. Und dann schlägt das Schicksal zu. Hauptdarsteller Friedrich Mücke vermittelt sein Leiden dem Zuschauer überaus glaubwürdig. Mit überdeutlichen Emotionen hält er sich zurück. Sein Martin ist ein Mann der 1980er Jahre, aber eben auch ein „erfahrener“ Bluter – und für beides gilt: cool bleiben und straight handeln – und wie es unter der Oberfläche aussieht, das geht keinen was an.
Für die Verletzlichkeit seines Helden, ja des Menschen an sich, finden Regisseur Friedemann Fromm und Kameramann Anton Klima Bilder, die sich vom psychologisch motivierten Abbildrealismus entfernen, den Handlungsfluss unterbrechen und gleichsam eine eigenwillige Erzählweise und besondere Atmosphäre schaffen. Immer wieder sind es Flüssigkeiten, Kaffee, Blut und vor allem Wasser, die zum Fließen, Sprudeln, Perlen, zum Pulsieren und Spritzen gebracht werden. Überhaupt scheint sich der Bluter im Wasser besonders wohl zu fühlen; denn dort ist er sicher und geborgen. Er schwimmt im Hallenbad, er krault durch die Weser und er liegt mit seiner Frau entspannt auf der Wasseroberfläche eines Sees, er lässt sich treiben – er geht nicht unter, er spürt sich und er verspürt Momente des Glücks. Dieser Mensch scheint ein anderer zu sein als der pragmatische PR-Mann: feinsinnig und sensibel.
Über das Wasser-Motiv erfährt der Zuschauer in kurzen Rückblenden aber auch die Geschichte des Bruders, der als Kind ausgerechnet im Schwimmbad zu Tode kam. Man kann sich nie sicher sein; auch davon erzählt ja der Film im Aids-Plot. Aber es gibt auch noch andere, weniger narrativ konkret motivierte Assoziationen, die man bei Wasser, das ja auch Quell des Lebens genannt wird, haben kann. „Wer sind wir? Was sind wir? Im Wesentlichen bestehen wir aus Flüssigkeiten. Und ein Tropfen kann einen ganzen See verändern“, betont Regisseur Fromm. „Darin sehe ich ein Bild für die Verletzlichkeit, die wir in uns tragen und so gerne vergessen würden.“ Diese kleinen Szenen, diese magischen Augenblicke sind Ruhemomente, in denen sich zum einen das Wesen des menschlichen Lebens (der Körper eines Erwachsenen besteht zu rund 65% aus Wasser) kristallisiert und die zum anderen dem Zuschauer Projektionsflächen geben, um der Skandal-Geschichte selbstständig noch eine tiefere, emotionalere Schicht hinzuzufügen. Fazit: „Unter der Haut“ ist ein wahrhaft vielschichtiges TV-Drama, das von einem Skandal erzählt, der den Fluss des Lebens tragisch zum Stocken bringt. Der Film setzt auf eine hohe Sinnlichkeit und genügt so nicht nur thematisch und spannungsdramaturgisch, sondern auch filmästhetisch hohen Ansprüchen.
Foto: NDR / Christine Schroeder