Ein Zettel flattert fröhlich durch die Luft, gerät mal hierhin, mal dorthin, bleibt unter einem Schuh hängen und erreicht schließlich einen Spielplatz, wo er von einem Mädchen entdeckt wird. Das Kind gibt das Blatt seiner Mutter, die steckt es gedankenverloren in eine leere Plastikflasche und entsorgt beides im Mülleimer. Ein Glück, dass es Pfandsammler gibt, sonst wäre die Botschaft für immer verloren. Was unter anderen Vorzeichen der Auftakt zu einer Komödie sein könnte, weil der Zettel zum Beispiel ein Glückslos wäre, dient hier als Anlass, um einen längst geschlossenen Fall wieder aufzurollen: Als die Nachricht bei der Flensburger Kripo eintrifft, ist sie zwar nicht mehr vollständig, doch die Notiz offenbart, dass der vor drei Monaten spurlos verschwundene 15jährige Dominik W. wohl doch nicht durchgebrannt ist.
Die nun folgende Rückblende beginnt mit einer Zufallsbegegnung: Jana Winter (Natalia Wörner) will ihren Sohn Leo (Jacob-Lee Seeliger) von der Schule abholen, aber der Abiturient hat andere Pläne. So hat sie Zeit, sich um eine Frau (Katrin Wichmann) zu kümmern, die ihr Kind vermisst: Dominik ist am Abend zuvor nicht nach Hause gekommen. Für Ausreißer ist Winters Abteilung zwar nicht zuständig, weshalb Kollege Hamm (Ralph Herforth) feststellt, ihre Fürsorge sei wohl ein „Mutterding“, aber die Kommissarin leitet dennoch eine Suchaktion ein, obwohl der entspannte Vater (Jean-Luc Bubert) überzeugt ist, der Junge werde schon wieder auftauchen. Allerdings zeigt sich auch, dass er nicht viel von seinem Sohn hält. Als Winter eine Art Gedicht entdeckt, das ein gewisses literarisches Talent erkennen lässt, macht sich der Mann darüber lustig, dass der Junge Schriftsteller werden wollte. Die Frage nach einem Tagebuch kontert er mit der Gegenfrage, ob das nicht eher was für Mädchen sei.
Der homophobe Vater ist die einzige Figur des Films, die allzu klischeehaft wirkt; selbst seine sinngemäße Bemerkung, Sport würde dem Jungen die Flausen schon austreiben, fehlt nicht. Viel besser ist die Idee, Dominiks Persönlichkeit stichwortartig durch die Mitglieder seiner Klasse beschreiben zu lassen: „weird“, „anders“, „irgendwie strange“, „verträumt“, „einfach speziell“. Diese Szene ist auch deshalb deutlich überzeugender, weil die Jugendlichen ausnahmslos echt wirken. Regisseurin Ziska Riemann hat schon mit den Kinofilmen „Lollipop Monster“ (2011, mit der damals noch sehr jungen Jella Haase) oder der ähnlich sehenswerten Teenager-Komödie „Get Lucky – Sex verändert alles“ (2019, eine Kinokoproduktion der ZDF-Redaktion Das kleine Fernsehspiel) gezeigt, wie gut sie mit dieser Altersgruppe umgehen kann. Das ist in diesem Fall besonders wichtig, denn Mitschüler Kaan (Eren M. Güvercin) spielt eine besondere Rolle für die Geschichte, zumal sein Vater Adnan (René Ifrah) ebenfalls „speziell“ ist. Kaan hat Dominik am Abend seines Verschwindens gesehen: Der Junge war mit einem Rucksack in Richtung Hafen unterwegs. Als Mutter Wiesner einen Abschiedsbrief findet, wird die Akte geschlossen: Alles spricht dafür, dass Hamm mit seiner ersten Einschätzung völlig richtig lag, zumal Dominik in seinem Tagebuch davon träumt, mit einer Person namens „A.“ wegzugehen und „die Blicke der Anderen“ hinter sich zu lassen. Eine clevere Kamerafahrt offenbart, dass sich die Sache wohl doch anders verhält; und dann flattert der Kripo dieser Zettel ins Haus.
„Dominiks Geheimnis“ (Episode Nummer 22, erstmals ohne den ausgestiegenen Martin Brambach) ist das fünfte Drehbuch von Zora Holt für „Unter anderen Umständen“.Die 2006 gestartete Reihe hat ohnehin ein kontinuierlich hohes Niveau, aber die Episoden nach Vorlagen der Ehefrau von Hamm-Darsteller Herforth sind auch dank der sorgfältigen Detailarbeit nochmals eine Spur sehenswerter, zumal die Autorin die krimiobligaten Ablenkungsmanöver stets ziemlich klug einfädelt; hier legt sie sehr geschickt gleich drei falsche Fährten. Ein Abstecher Winters nach Hamburg mit verblüffender Zwischenlösung wirkt wie eine Reminiszenz in eigener Sache: In „Mutterseelenallein“ (2022) hatte Holt einen besonders abscheulichen Fall von Cyber-Kriminalität erzählt. Natürlich führt sie auch die nicht ganz einfache Beziehung von Jana und Leo Winter fort. Der Sohn ist erheblich ungehalten, als die Kommissarin seine neue Freundin (Emilia Djalili), eine Mitschülerin Dominiks, mit ihren Fragen vergrault. Kollege Hamm wiederum, ohnehin eine Art Ersatzvater, hat großes Verständnis für Leo und inklusive eines rührenden Abschiedsmoments nach dem dramatischen Finale die schönsten Szenen des Films.