Wenn ein Samenspender mehr Rechte hat als die Witwe der leiblichen Mutter
Ellen (Susanne Wolff) wünscht sich ein Kind von ihrer Lebenspartnerin Katharina alias Kiki (Britta Hammelstein) – und die ist sofort dabei: „Okay, ich mach‘ dir eins.“ Ihre gemeinsame Freundin Natalie (Lisa Wagner) preist ihren Mann Wolfgang (Andreas Döhler) als Samenspender an, denn der hilft gern und lässt sich auf die Vereinbarung ein, zu dem Kind später keinen Kontakt zu haben. Das ändert sich, als Katharina bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommt. Ellen besitzt zunächst nur die Vormundschaft, sie hat kein Sorgerecht für den kleinen Franz, und die Adoptionsunterlagen sind nicht auffindbar. Allerdings weiß sie nicht, ob Kiki sie überhaupt ausgefüllt und unterschrieben hat. Anfangs will Wolfgang offenbar wieder nur helfen, aber als er in der Zeit, in der sich die kränkelnde Ellen allein auf dem Bauernhof ihres Vaters auskuriert, den Kleinen öfter im Haus von Kikis Schwiegereltern besucht, ist er bald richtig vernarrt in ihn. Aber auch Johannes (Ernst Stötzner) und Evelyn (Victoria Trauttmansdorff) melden Ansprüche an, vor allem der Vater sucht nach dem Tod der Tochter Trost bei Franz, während Katharinas berufstätige Mutter versteckte Vorbehalte gegenüber Ellen hegt; sie nimmt es ihr offenbar übel, dass durch sie und das Baby aus ihrer unkonventionellen Tochter ein Hausmütterchen geworden ist. Auch die Beziehung des Paares hat unter der neuen Situation gelitten. War Kiki noch glücklich, oder weshalb hat sie die Adoption auf die lange Bank geschoben? Während Ellen mit ihrer Trauer und ihrem Misstrauen klarzukommen versucht, schmieden der Samenspender und die Schwiegereltern Pläne, die ihr nicht gefallen. Ihre Chancen, Franz zu adoptieren, stehen jedenfalls nicht gut.
„Es ging uns nicht darum, die Frage aufzuwerfen, welche Figur das Kind bekommen soll, sondern darum zu zeigen, dass homosexuelle Paare beim Abstammungsrecht nach wie vor benachteiligt werden. Als Schauspieler mussten wir dafür Sorge tragen, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer ihre Sicht auf die Dinge nicht an den Figuren und deren Charakter festmachen.“ (Susanne Wolff)
Foto: WDR / Martin Valentin Menke
Ein herausragendes, vielschichtiges, analytisches & gleichsam packendes TV-Drama
Eine sehr komplexe und entsprechend schwer zu bewältigende emotionale Gemengelage ist das Herzstück des ARD-Fernsehfilms „Unser Kind“. Vier Menschen wollen – nach eigener Aussage – „nur das Beste“ für den Kleinen, deren leibliche Mutter gestorben ist. Das ist nur möglich und taugt zur Tragödie, weil das Abstammungsrecht mit dem liberalen Familienrecht nicht Schritt gehalten hat: „Die Stiefkindadoption für homosexuelle Paare ist mit der Ehe für alle nicht vom Tisch“, so die Autorin Kristl Philippi. Und so ist diese Geschichte um Adoptions- und Umgangsrecht, um die Rechte von Samenspendern, Leihmüttern und das vielzitierte „Kinderwohl“ für die Produzentin Bettina Brokemer „ein Film, der sich mit seinem Engagement für einen Standpunkt einsetzt“. Dass aus dieser WDR-Produktion – über die gute Haltungsnote hinaus – ein herausragendes, vielschichtiges, analytisches und gleichsam packendes TV-Drama geworden ist, das liegt vor allem an den verschiedenen Möglichkeiten, diesen Film zu sehen, und sich mit der Komplexität des Themas vorurteilsfrei auseinandersetzen zu können (um am Ende vielleicht berechtigte Zweifel zu bekommen an der gegenwärtigen Rechtslage). Und so hat man in den 90 Minuten nie den Eindruck, unkritisch einem Lehrstück oder einer bipolaren Dramaturgie mit – in diesem Fall – der klassischen Protagonistin und den (bösen) Antagonisten auf den Leim zu gehen, sondern vielmehr echten Menschen mit durchaus nachvollziehbaren Motiven zu begegnen. Man wird sich allenfalls wundern darüber, dass ein Samenspender mehr Rechte hat als die Witwe der leiblichen Mutter.
„Gesetze und Regelungen dringen hier sehr tief und existenziell ins Leben, ins Denken und Fühlen der Menschen ein. Da musste ich die richtige Balance finden. Der Film sollte ja auf keinen Fall didaktisch werden, sondern die Gefühle und die Entscheidungen der Figuren nachvollziehbar machen.“ (Kristl Philippi, Autorin)
Foto: WDR / Martin Valentin Menke
Viele Lesarten & eine angenehm Distanz wahrende Rückblenden-Dramaturgie
Durch diese undramatische, realistische Erzählweise lässt sich „Unser Kind“ – über das Thema hinaus – auch lesen als ein Film über die verschiedenen Formen der Trauer, über die schmerzhafte Lücke, die der Tod für die Hinterbliebenen gerissen hat, als eine Familientragödie oder als ein Film über eine gleichgeschlechtliche Liebe. Und die ist im Übrigen denselben Gefahren wie eine heterosexuelle Beziehung (mit Kind) ausgesetzt: Denn offenbar ist die leibliche Mutter nicht so gut mit ihrer neuen Rolle klargekommen wie ihre Partnerin, die den traditionell männlichen Part – als „Ernährer der Familie“ – übernommen hat. Wer mag, der kann sich auch von den melodramatischen Momenten berühren lassen. Da ist der Streit vor der Abreise von Kiki, die zum ersten Mal etwas nur für sich, ohne den kleinen Franz, unternimmt, ein klärendes Telefonat zwischen den Frauen ist zwar noch mög-lich, aber dann schlägt das Schicksal zu. Der emotionale Faktor nimmt keineswegs überhand (wie es der ARD-Mittwoch-Sendeplatz nahelegt); dafür sorgt schon die ausgeklügelte, eine angenehme Distanz wahrende Rückblenden-Dramaturgie, die die Liebe des Paares und die ersten Monate nach der Geburt in kurzen Momentaufnahmen nachreicht. Der Film setzt ein mit dem Tag der Trauerfeier. Die Gesellschaft löst sich langsam auf, und Ellen bleibt allein mit Franz und ihrem Schmerz zurück – und in ihrem Kopf kreisen die Erinnerungen. Bereits nach fünf Filmminuten kennt der Zuschauer die tragischen Eckdaten der Geschichte und kann sich nun auf die aktuellen Befindlichkeiten einlassen: Ellens permanentes Misstrauen und ihre abweisende Art ihren Schwiegereltern gegenüber, die anfangs unerklärliche Spannung zwischen ihr und Kikis Mutter und die sehr unterschiedliche Trauerarbeit der drei. Die assoziative Rückblendentechnik, der in Kombination mit der Montage, mit Musik, Sounddesign und Bildgestaltung eine zärtliche Poesie innewohnt, ermöglicht auch, dass viele Aspekte der Vergangenheit erzählökonomisch klug – sprich: kurz & knapp – angeschnitten werden können. Eine chronologische Erzählweise (oder die überstrapazierte „20 Monate vorher“-Rückblende) müsste dagegen viel narrativen Ballast mitschleppen und würde dem Zuschauer weniger Freiraum lassen für Wahrnehmung und Interpretation.
„Allen war sehr wichtig, dass wir echte Menschen zeigen, dass man jede Perspektive nachvollziehen und sich mit jeder Figur identifizieren kann … Der Konflikt des Films war jederzeit sehr real, da jeder seine Figur ‚schützen‘ wollte. Wir haben wirklich versucht, jede Motivation verständlich und nachvollziehbar zu machen.“ (Nana Neul, Regisseurin)
Foto: WDR / Martin Valentin Menke
Überragende Schauspieler, ausgefeilte Interaktionen & eine umsichtige Regisseurin
Ein Drama wie „Unser Kind“ steht und fällt mit der Besetzung und der Schauspielerführung. Regisseurin Nana Neul („Eine Sommerliebe zu dritt“) bewies bei beidem eine sichere Hand. Ernst Stötzner und Victoria Trauttmansdorff spielten schon ein Mal bei ihr, in dem frankophilen Beziehungsdrama „Stiller Sommer“, ein Ehepaar, das allerdings nicht mehr an einem Strang zieht. Auch im neuen Film weiß man nie genau, wer wo steht. Stötzners Vater ein bisschen kauzig, aber beflissen, wenn es um seinen Enkel geht, während Trauttmansdorffs Figur weniger offen agiert und sie etwas zu belasten scheint, was sie vom Trauern abhält. Die Gefühlslagen sind kompliziert, Paarsolidarität und Eigenwille sorgen für ein aufgeklärtes, alltagsnahes Spannungsverhältnis zwischen den beiden. Gleiches gilt für den Samenspender und seine Frau. Wolfgang, den Andreas Döhler („Tatort – Der kalte Fritte“) spielt als einen, dem man – egal, was er tut – kaum böse sein kann, ist „ein wenig wie ein kleines Kind“ (Döhler) vom kleinen Franz und den eigenen großen Gefühlen überwältigt und bringt damit seine Ehefrau (Lisa Wagner in ein er feinen Nebenrolle) in einen Gewissenskonflikt zwischen Ellen und sich. Sie will Wolfgang nicht verlieren; trotzdem gibt sie ehrlich und wohl nicht immer vorteilhaft für den Sorgerechtsprozess ihres Mannes dem Jugendamt Auskunft.
Eigenwillig, ohne Wohlfühlambition, aber gut nachvollziehbar: Susanne Wolff als Ellen
Die schwerste Aufgabe innerhalb dieses großartigen Ensembles hat die Hauptdarstellerin Susanne Wolff zu bewältigen. Ellen hat keinen, dem sie sich erklären könnte (möchte es aber auch nicht); Wolff gibt quasi Ellens (seelische) Verfassung als Solo. Ihre Figur muss mit dem Verlust ihrer geliebten Partnerin klarkommen und sie beäugt misstrauisch, was um sie herum passiert. Sie weiß, dass sie in Justitia keinen Verbündeten hat, dass sie abhängig ist vom Wohlwollen des Samenspenders und der Eltern der leiblichen Mutter; selbst in den Flashbacks mit ihrer Frau spürt man Abhängigkeit und Verzweiflung, worin Kiki ein Misstrauen erkennt, das sie unangebracht findet. Aus all dem erklärt sich Ellens große Reserviertheit. Sie ist keine Heldin zum Liebhaben. Das wäre bei diesem Sujet und Genre auch nicht angebracht. So eigenwillig und ohne jede Wohlfühlambition Susanne Wolff ihre Ellen verkörpert, so treffend formuliert die 45-jährige Schauspielerin die größte Herausforderung ihrer Rolle (und das dramaturgische Prinzip des Films): „Mir war klar, dass es auf keinen Fall einen Moment geben darf, in dem die Zuschauerinnen und Zuschauer Ellen wegen irgendeiner von mir angelegten Schrägheit, wegen eines unsympathischen Charakterzuges verlassen und sagen: ‚Also, mit dieser Frau hätte ich auch meine Probleme, ich fände es besser, wenn dem Samenspender das Kind zugesprochen wird.‘ Es wäre aber auch nicht im Sinne der Geschichte gewesen, Ellen dermaßen sympathisch zu spielen, dass alle sagen: ‚Die Witwe der Mutter ist dermaßen nett, sie muss unbedingt das Kind bekommen‘.“