Studentin Mia Schubert (Katharina Stark) wird an der Fußgänger-Ampel von einem Auto angefahren, dessen Fahrer einen Herzinfarkt erlitten hatte. Ein Film, der an die Zuschauer:innen appelliert, bei einem Unglück nicht sogleich das Smartphone zu zücken, muss den verhängnisvollen Moment natürlich selbst ausgesprochen sensibel inszenieren. Das gelingt Regisseurin Michaela Kezele auch, wobei ein kompletter Verzicht auf Bilder vom Aufprall vielleicht noch besser gewesen wäre. Anschließend zeigt die Kamera entsetzte Gesichter der Umstehenden und für einige Sekunden den Schuh, den Mia verloren hat. Nach dem nächsten Schnitt überbringen zwei Polizisten Mias Mutter Jenni (Anja Schneider) die Nachricht vom Unfall. Die Kamera hält Abstand, kein Wort ist zu hören. Dass Mia gestorben ist, lässt die Reaktion der Mutter allerdings erahnen. Zur Gewissheit wird dies einige Szenen später, als Jenni sich von ihrer Tochter in der Gerichtsmedizin verabschiedet.
Drehbuch und Regie stellen von Anfang an konsequent die Figur der Mutter in den Mittelpunkt. Eine anspruchsvolle Rolle für Anja Schneider („Für immer Eltern“, „Lieber Thomas“), die beinahe in jeder Szene zu sehen ist. Und die vielseitige Schauspielerin, die zum Ensemble des Deutschen Theaters Berlin gehört, meistert diese intensive Aufgabe mit Bravour. In vielen Nah-Einstellungen spiegelt sich in ihrem Gesicht die Flut überwältigender Gefühle: Der erste Schock, die Verzweiflung über den Verlust des einzigen Kindes, die Einsamkeit, dazu das Entsetzen über die im Netz kursierenden Videos vom Unfallort, die Verbitterung, auch der wieder neu hochkochende Ärger über ihren ehemaligen Lebensgefährten Jakob (Aurel Manthei), der sie und seine Tochter Mia einst sitzen gelassen und nur sporadisch Unterhalt gezahlt hatte. Regisseurin Kezele gibt Anja Schneider in ihrer Inszenierung den notwendigen Raum, um die Hauptfigur differenziert zu entwickeln. Und statt durch wortreiche Dialoge nimmt Jennys Persönlichkeit häufig allein durch Bilder (Kamera: Felix von Muralt) Gestalt an, etwa bei ihrer Arbeit in einer Bäckerei.
Im Gegensatz dazu sind die Täter:innen allerdings allzu klischeehaft geraten. Dem Publikum dürfte es leicht fallen, sich von den beiden gedankenlosen Mädels vom Beauty-Salon und dem rücksichtslosen Manager zu distanzieren – im Sinne von: Hat doch mit mir nichts zu tun. Das Drehbuch von Dominique Lorenz („Eine harte Tour“, „Eine Liebe später“) behandelt immerhin verschiedene Aspekte. Zwei Videos kursieren im Netz, auf die die Mutter stößt, weil sie mehr über die genauen Umstände des Todes ihrer Tochter wissen will. Unausgesprochen stehen diese Fragen im Raum: Hat sich jemand um Mia gekümmert? Wurde Erste Hilfe geleistet? Oder haben alle nur dabeigestanden und geglotzt? Hätte Mia vielleicht sogar gerettet werden können? Bei der Suche nach Informationen über den Unfall findet Jenny zuerst das Video auf dem „Blog Beautiful Life“. Jenny sieht ihre Tochter auf dem Bürgersteig liegen, die Umstehenden haben einen Kreis gebildet, aber niemand scheint Mia zu helfen, auch der Kioskverkäufer sitzt im Hintergrund seelenruhig auf seinem Stuhl. Die Szene wird gedreht und live kommentiert von den jungen Frauen aus dem nahe gelegenen Beauty-Salon, die zufällig vor Ort sind. Nach dem ersten Schreck siegt der Voyeurismus („müssen näher ‚ran“).
Noch widerlicher ist das zweite Video auf der Webseite „extrem krasse Unfälle“. Der anonyme Vlogger drängelt sich in die erste Reihe, hält die Kamera voll sowohl auf die am Boden liegende Mia als auch auf den am Herzinfarkt verstorbenen Autofahrer und jubelt: „Einer der ersten am Unfallort, soviel Glück muss man erst mal haben.“ Gleichzeitig wird das Video aber auch zum Beweisstück, denn es dokumentiert, wie Manager Sven Giebert (Dominik Weber) die Rettungskräfte behindert. Seine Luxus-Limousine blockiert die Zufahrt für den Rettungswagen, und statt der Aufforderung eines Sanitäters zu folgen, den Wagen beiseite zu fahren, beschwert er sich lautstark. Mias Mitbewohnerin Ali (Maral Keshavarz) setzt Screenshots aus dem Video später sogar in Absprache mit Jenny gezielt ein, um Giebert öffentlich unter Druck zu setzen. Eine interessante Volte, denn dass Gaffer, die selbst die Rettungskräfte behindern, diese Behinderung gleichzeitig dokumentieren, ist sicher nicht weit hergeholt. Dem eigentlich abstoßenden Video einen gewissen Nutzen zuzuschreiben, ist aber auch eine ambivalente Idee, weil sie der fragwürdigen Eigen-Rechtfertigung des Vloggers Berechtigung attestiert. „Er versteht sich als Reporter“, weiß Jennys Anwältin Katarina Nolte (schön kratzbürstig: Bärbel Schwarz).
Das Drama nimmt nach behutsamer Einleitung und sorgfältiger Vorbereitung Fahrt auf. Denn Jenny macht mit Hilfe Alis sowohl die Beauty-Bloggerinnen als auch den Manager ausfindig und stellt sie (ebenso wie den Kioskverkäufer) zur Rede. Und weil Giebert unsensibel und ausgesprochen unklug reagiert, zertrümmert sie die Scheiben seines schicken Wagens. Man darf wohl davon ausgehen, dass sie dabei von weiten Teilen des Publikums im Stillen angefeuert wird. Aber Anja Schneider spielt die trauernde Mutter keineswegs anbiedernd und nahbar, sondern bisweilen auch schroff und abweisend, verzweifelt, kämpferisch, dann wieder tieftraurig und unverständlich grob – eben eine in der Seele schwer verletzte Frau und deshalb absolut glaubwürdig. Jenny muss wegen der Sachbeschädigung selbst mit einer Anzeige rechnen. Auf diese Weise wird der Film auch zu einem juristischen Drama, das die Frage aufwirft, was es bedeutet, wenn sich Angehörige gegen die öffentliche Zurschaustellung ihrer bei einem Unfall getöteten Kinder, Lebenspartner oder anderer Personen zur Wehr setzen. Die Pest des Gaffens hat immerhin schon zu einer Gesetzesverschärfung geführt: Seit dem 1. Januar 2021 wird das Filmen von Unfalltoten mit bis zu zwei Jahren Haft oder einer Geldstrafe geahndet. (Text-Stand: 20.10.2022)