„Wenn du nicht lieb bist, kommst du ins Heim“ – Drohungen dieser Art waren noch Anfang der 60er Jahre üblich als Erziehungsmethode hilfloser Eltern. Was es mit diesen Heimen auf sich hatte, konnte man nur ahnen: Drill, Züchtigung; oft wurden Kinder regelrecht weggesperrt. Zu einer öffentlichen Debatte über die menschenunwürdigen Zustände in den Erziehungsheimen kam es erst 40 Jahre später. Auslöser war das Buch „Schläge im Namen des Herrn“ von Spiegel-Autor Peter Wensierski. Zum ersten Mal brachen viele, die in Heimen seelisch und körperlich misshandelt und als billige Arbeitskräfte ausgenutzt wurden, ihr Schweigen. Der Fernsehfilm „Und alle haben geschwiegen“ erzählt „eine fiktive Geschichte, die Versatzstücke tatsächlicher Schicksale enthält“, betont ZDF-Redakteurin Caroline von Senden. Drehbuchautorin Andrea Stoll führte Interviews mit Betroffenen, Opfern und Kirchenvertretern. Ihr Ziel: „eine eigene Geschichte, die den Zeitgeist der 60er Jahre atmet“, ein wahrhaftiges Szenario mit authentischen Figuren und größtmöglicher Faktentreue.
„Angeblich drohende sittliche Verwahrlosung war immer häufiger ein Grund, junge Menschen in Erziehungsanstalten einzuweisen.“ (Peter Wensierski)
„Die größte Herausforderung war für mich die Arbeit mit den jungen Darstellern. Die größte Schwierigkeit bestand darin, die jungen Darsteller bei der Inszenierung von Gewalt- und Missbrauchsszenen soweit zu beschützen, dass bei ihnen keine bleibenden Schäden verursacht werden.“ (Dror Zahavi)
Anfang der 60er Jahre, Luisa, ein aufgeweckter 16-jähriger Teenager, wird in die Obhut eines Kinderheims gegeben. Ihre Mutter, die sich einer schweren Operation unterziehen muss, hat das Sorgerecht den Schwestern von Burg Falkenstein übertragen. Anstatt zur Schule zu gehen, muss das intelligente Mädchen von morgens bis abends Wäsche mangeln. Sie freundet sich mit Paul an, dem geborenen Prügelknaben. Er flüchtet sich in die Literatur; sie hält sich an dem Gedanken fest, nur wenige Monate im Heim bleiben zu müssen. Ein weiterer Lichtblick ist Jana, die junge Diplompädagogin, die für ein Forschungsprojekt mehrere Wochen auf Burg Falkenstein lebt und die Insassen ausgiebig befragt. Sie erkennt Luisas ungenutzte Potenziale und spürt, wie sehr das Mädchen unter dem Heimalltag leidet. Sie will sich für mehr Selbstverantwortung der Jugendlichen einsetzen und sie verspricht Luisa, ihr zu helfen. Doch das wird nicht leicht bei diesen Schwestern der alten Schule.
Die Erfahrungen, die die Heldin auf Burg Falkenstein macht, ist die emotionale Kerngeschichte von „Und alle haben geschwiegen“. Die Schwestern versuchen, in den Jahren des Aufbegehrens der Jugend den Willen des Mädchens zu brechen. Alicia von Rittberg spielt sich anrührend durch vielfältige Stimmungslagen: da ist tiefer Schmerz, da ist Wut, da ist Trotz, da ist die Liebe zur kranken Mutter, die sie schweigen lässt, da ist die Hoffnung, dass sie bald dieser Hölle der unbarmherzigen Schwestern entkommen kann. Gerade ihre frische, liebenswerte Ausstrahlung, hinter der die Schwestern nur „nackte Fleischeslust“ wittern, sagt genau so viel über die Frauen, die als Erzieherinnen pädagogisch und menschlich überfordert sind, Frauen, die nichts kennen außer Regeln und Gebote. Bei Dramen über Macht und Ohnmacht, über Gewalt gegen Schwächere, die von extremen Täter-Opfer-Bildern geprägt sind, bedarf es großer Achtsamkeit, damit die Dramaturgie der scharfen Gegensätze nicht über die Geschichte dominiert. Bei „Und alle haben geschwiegen“ kommt dieser Eindruck nicht auf. Hier glaubt man vielmehr, dieses kaltherzige System der Angst zu verstehen.
Neben Drehbuchautorin Andrea Stoll hat daran auch die Filmästhetik enormen Anteil. Dror Zahavi arbeitet mit (viel) Schatten und (wenig) Licht, sodass es immer wieder die Hauptdarstellerin ist, die sich als Lichtgestalt aus den Bildern der düsteren Burgräume herausschält. Dabei spielt die Ikonografie des Gefangenseins eine sinnlich dramatische Rolle: das verschlossene Tor, der magische Schlüssel, die dicken Burgmauern, die schweren Gewölbe. Bild gewordene Enge. Und die Farben wirken häufig wie herausgewaschen aus den Bildern, so wie die Gefühle rausgeschwemmt wurden aus dem Leben in diesem Gemäuer. Im Kontrast dazu tauchen Zahavi und sein Kameramann Gero Steffen in einer Ausbruchsszene, die Sehnsucht und Freiheitsdrang konnotiert, die Landschaft in surreale Farben. Je länger die aussichtslose Flucht dauert, umso mehr trüben sich Landschaft und Himmel trostlos ein.
Das ist großartiges Bilderfernsehen. Und dann gibt es ja noch weitere Kostbarkeiten. Ein Kinofilm hätte bei der hohen Intensität der Heimgeschichte den Sprung in die Fast-Gegenwart nicht gebraucht. Fürs Fernsehen aber ist es sinnvoll, den gesellschaftlichen Diskurs mit dem Petitionsausschuss in den Film hineinzuholen. So haben Senta Berger und Matthias Habich die Möglichkeit, der vermeintlich kleinen Geschichte historischen Nachhall zu geben (und sicher noch ein paar Zuschauer mehr für das schwere Thema zu gewinnen). Auch wenn man spürt, wie lange die Macher mit dieser Rückblendenstruktur gerungen haben – am Ende ist es gut geworden: die Ausflüge ins Heute nicht zu ausgiebig; sie sind nur der Chor dieser Tragödie. Die Informationen am Rande sind klug bemessen; wer mehr Fakten zum Thema will, kann sie nachlesen. Die Zeitlosigkeit des Schmerzes bleibt spürbar – aber auch die Scham zu sprechen, die Angst vor erneuter Demütigung. Und im Schlussmonolog von Paul, über 40 Jahre danach, wird dieses System noch einmal sehr anschaulich in eine Metapher gefasst: „Ich habe gelernt, meinen Kopf einzuziehen, mein Kopf ist mir immer mehr in meinen Hals hineingewachsen, sogar jetzt, jetzt habe ich Angst, dass Sie mich schlagen.“ (Text-Stand: 14.2.2013)