Ein Kofferraum bleibt ein Kofferraum, aber das englische „Trunk“ klingt natürlich interessanter; auch wenn viele Menschen vermutlich erst mal an ein Getränk denken werden. Der Titel bezieht sich auf den Schauplatz der Handlung, denn die trägt sich tatsächlich fast ausschließlich im Kofferraum eines Autos zu, das durch die Nacht fährt. Hier kommt eine junge Frau zu sich, zunächst ohne Erinnerungen, aber mit klaffender Wunde in der Nierengegend. Außerdem kann sie ihre Beine nicht bewegen. Nach und nach wird Malina klar, was ihr zugestoßen ist: Sie war mit ihrem Freund per Anhalter auf dem Weg zum Frankfurter Flughafen; und dann sind die beiden offenbar ins falsche Auto gestiegen. Ein bewaffneter Mann hat Malina gezwungen, eine Wasserflasche zu trinken; sie hat den Moment zufällig mit ihrer Digitalkamera gefilmt. Was aus ihrem Freund geworden ist, weiß sie nicht. Der Entführer hat jedoch vergessen, ihr das Smartphone abzunehmen. Als erstes ruft sie ihre Schwester Mona an, die die Geschichte jedoch für einen geschmacklosen Scherz hält. Mona ist schwanger, was zunächst wie ein überflüssiges Detail wirkt, später aber noch zu einer unerwarteten Wende führen wird. Der Vater lässt sich ebenfalls nicht überzeugen. Zum Glück erreicht Malina eine Polizistin, die ihr glaubt. Die Frau kann allerdings nicht viel ausrichten: In Regionen mit wenig Besiedlung stehen nur vereinzelte Funkmaste, eine genaue Ortung ist deshalb nicht möglich, und schließlich verschwindet das Auto in Tschechien.
Neu ist die Idee allerdings nicht. Wohlwollend formuliert hat sich Marc Schießer (Buch, Regie, Schnitt, Produktion) durch den 2020 auf Englisch gedrehten dänischen Film „The Girl in the Trunk“ von Jonas Kvist Jensen inspirieren lassen; abgesehen von kleinen Abweichungen ist die Handlung weitgehend identisch. Vergleichbare „Single Location“-Filme über Entführungen gab es ebenfalls schon, meist jedoch aus der Perspektive des Menschen am anderen Ende der Telefonleitung erzählt; „The Guilty“ (Dänemark 2018) zum Beispiel handelt vom überraschend fesselnden Wettlauf eines Notrufpolizisten gegen die Zeit. Der äußere Rahmen der beiden „Trunk“-Filme erinnert an „Buried – Lebend begraben“ (2010) mit Ryan Reynolds als amerikanischer LKW-Fahrer im Irak, der nach einem Überfall in einer vergrabenen Holzkiste erwacht. Auch er wird telefonisch über die letztlich vergebliche Suche auf dem Laufenden gehalten; „Sorry“ ist das letzte Wort, das er hört. In „Trunk“ erklingt das Wort ebenfalls, allerdings bereits weit vor dem packenden Finale.
Es ist ohnehin mehr als beeindruckend, wie es Schießer, für die funk-Webserie „Wishlist“ 2017 mit dem Grimme-Preis und dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet, gelungen ist, seinen Thriller neunzig Minuten nonstop auf einem hohen Spannungsniveau zu inszenieren. Das hat auch viel mit Sina Martens zu tun, die abgesehen von einem unerwarteten Zwischenspiel durchgehend zu sehen ist und ihre Rolle mit genau der richtigen Mischung aus Verzweiflung und Trotz verkörpert. Neben der Herausforderung, diesen Film praktisch allein zu tragen, dürften die Dreharbeiten auch physisch enorm strapaziös gewesen sein. Neben den Telefonaten mit der Polizistin (Luise Helm) wird die Handlung durch gelegentliche Ereignisse zugespitzt: Als das Auto im strömenden Regen an einer Tankstelle hält, nutzt Malina die Chance und ruft um Hilfe, doch niemand hört sie. Der Entführer (Poal Cairo) macht ihr klar, dass er sie zwar lebend abliefern soll, aber von ihrer Zunge sei keine Rede gewesen.
Wer die Auftraggeber des Mannes sind, bleibt offen. Malina ist angehende Ärztin, ihr Vater mutmaßt zunächst, dass sich die Eltern eines bei einer Notoperation an Nierenversagen gestorbenen Mädchens rächen wollen. Dass sich schon früh erahnen lässt, wer mit dem Kidnapper unter einer Decke steckt, tut der Spannung keinerlei Abbruch. Entscheidender für die Kurzweiligkeit des Films ist die Bildgestaltung (Daniel Ernst, Tobias Lohf), die jeden Anflug visueller Klaustrophobie vermeidet, ohne Malinas Situation zu beschönigen. Dafür nimmt Schießer auch in kauf, dass die Bilder mitunter gegen die filmische Realität verstoßen, wenn die ohnehin sehr agile Kamera im geschlossenen Kofferraum in die Höhe steigt. Wechselnde Schnittrhythmen, Positionswechsel, Zooms, extreme Nahaufnahmen sowie ein verblüffender digitaler Kameraflug von außen durchs defekte Rücklicht in den Kofferraum sorgen für viel optische Abwechslung. Zwischendurch wird es auch mal spektakulär, als der Entführer zum Geisterfahrer wird und mehrere Unfälle verursacht. „Trunk“ würde auch im Kino funktionieren.