Toter Winkel

Herbert Knaup, Koffler, Drogunova, Braeunlich, Lacant. „Ins Herz und ins Hirn“

Foto: WDR
Foto Thomas Gehringer

Der eigene Sohn ein Rechtsextremer? Das Familiendrama „Toter Winkel“ erzählt konsequent aus der Perspektive eines verunsicherten Vaters, eines Friseurmeisters in einer Kleinstadt. Außerdem ist da noch Anyá, die während der nächtlichen Abschiebung ihrer Familie vor der Polizei floh und bei einem Bekannten Unterschlupf findet. Starke Figuren, klasse Schauspieler (vor allem Herbert Knaup & Emma Drogunova), eine stringent und spannend entwickelte Geschichte mit zwei Handlungssträngen, die schicksalhaft aufeinander zu laufen. Vieles ist stimmig, nicht alles. „Toter Winkel“ ist kein Themenfilm, die gesellschaftspolitische Dimension – rechte Gewalt entsteht nicht nur in abgehängten Milieus – tritt hinter den Vater-Sohn-Konflikt zurück, wirkt aber auch weniger überzeugend. Schockierend die extreme Gewalttat, die die ohnehin bedrückende Wirklichkeit offenbar noch übertreffen sollte.

Eine Nacht-und-Nebel-Abschiebeaktion & eine Mittelstandfamilie
Die Polizei holt die fünfköpfige Familie Krasniqi nachts aus den Betten. Das Bleiberecht sei abgelaufen, nun gehe es „zurück nach Pristina“, heißt es. Eine Szene, die sich täglich in Deutschland angesichts der restriktiver gewordenen Abschiebepolitik abspielt. Vor der Haustür gibt es ein Handgemenge, das die älteste und in Deutschland geborene Tochter Anyá (Emma Drogunova) zur Flucht nutzt. Einer der Beamten, der sie zu Fuß verfolgt, wird von einem Lkw überfahren. Nach diesem dramatischen Auftakt wechselt der Film an einen ruhigeren, hellen Schauplatz: In die Familie von Friseurmeister Karl Holzer (Herbert Knaup). Der hat seinen Laden in der Fußgängerzone einer Kleinstadt, wo man wegen ein paar Glasscherben vor der Tür schon die Polizei ruft. Ansonsten scheint seine Welt intakt zu sein. Die Ehe mit Elsa (Gastdorf) wirkt harmonisch. Beide passen auf die Enkelin auf, wenn ihr Sohn Thomas (Hannes Koffler) und seine Frau Marianne (Theresa Scholze) zur selben Zeit Dienst haben. Die drei Generationen essen auch regelmäßig zusammen. Ein geordnetes Mittelstandsfamilienleben ist das, in sauberen, aufgeräumten Wohnungen, mit Kaninchenzucht als Hobby und sportlichem Wettstreit von Vater und Sohn auf dem Schießstand.

Toter WinkelFoto: WDR
Der Vater (Herbert Knaup) ist sich nicht mehr sicher, ob er seinem Sohn Thomas (Hanno Koffler) noch trauen kann. Seine neonazistischen Umtriebe mit 16 nur eine Episode?

Wer ist der bei der Abschiebeaktion getötete Manuel wirklich?
Logisch, dass da etwas unter der Oberfläche lauert und zum Vorschein kommen wird. In Karls geordnete Welt schneidet eine Nachricht, die bei ihm anfangs nur leise Unruhe auslöst. Beim täglichen Tratsch unter den Einzelhändlern hört Karl vom Tod eines jungen Mannes: Manuel, Sohn eines anderen Ladenbesitzers, sei von einem Lkw überfahren worden. Man vermutet Selbstmord, offenbar hatte Manuel, der in Kindertagen ein Freund von Thomas war, einige Probleme. Wenig später erfährt Karl vom örtlichen Polizisten (Dirk Borchardt), dass bei Manuels Leiche eine Waffe gefunden worden sei, die eine Verbindung zum rechtsradikalen Untergrund vermuten lässt. Irritiert ist jetzt vor allem das Publikum: Offenbar sind Manuel und der bei der Abschiebe-Aktion verunglückte Beamte ein und dieselbe Person. Dass Manuel aber ein Polizist oder Beamter bei der Ausländerbehörde gewesen sein könnte, davon ist nicht die Rede. Wollen die staatlichen Stellen mal wieder etwas vertuschen? Aber warum wusste nicht einmal Manuels Vater (Axel Gottschick) von der Tätigkeit des Sohnes?

Regisseur Lacant inszeniert mit viel Gespür für die Schauspieler
Das klug aufgebaute Buch folgt zwei parallel erzählten Handlungssträngen, die sich immer mehr annähern und am Ende schicksalhaft zusammentreffen. Anyá sucht nach ihrer Flucht vor der Abschiebung Unterschlupf bei Martin (Valentino Fortuzzi), der sie vorerst auf dem Dachboden versteckt. Martin ist kein enger Freund, aber einer, von dem Anyá ahnt, dass er ihr helfen wird. Regisseur Stephan Lacant inszeniert auch diesen Nebenstrang mit viel Gespür für die Ausdruckskraft der jungen Schauspieler. Schön, wie sensibel und unspektakulär die Zuneigung zwischen Anyá & Martin erzählt wird, ohne dass dies zu sehr in den Vordergrund rückt. Anyá erhält SMS-Nachrichten vom Handy ihres Vaters, bleibt aber misstrauisch.

Toter WinkelFoto: WDR
Die andere Geschichte: Anyá (Emma Drogunova) soll mit ihren Eltern in einer Nacht-und-Nebelaktion abgeschoben werden; die 15-Jährige kann sich allerdings absetzen.

Karl beginnt seinen Sohn mit anderen Augen zu sehen
Neben Emma Drogunova als kluge, wütende und verzweifelte junge Frau, die nicht verstehen kann, „warum dieses scheiß Land uns auf einmal loswerden will“, liefert hier Herbert Knaup mal wieder den Beweis seiner schauspielerischen Klasse. Eine herausfordernde Rolle ist dieser biedere Friseur, der sich in seiner väterlichen Selbstgewissheit erschüttert sieht. Karl findet einen Umschlag mit Fotos, auf denen Thomas und Manuel die Hände zum Hitlergruß empor recken. Er beginnt, seinen Sohn mit anderen Augen zu sehen. Thomas‘ Bemerkungen über die „natürliche Ordnung“ bei der Kaninchenzucht oder den hohen Ausländeranteil an einer Schule klingen nun verdächtig, doch ob er tatsächlich von den Eltern unbemerkt zum Neonazi geworden ist, hält der Film lange offen. Mit den Fotos konfrontiert, wiegelt Thomas ab. Er sei doch erst 16 gewesen und hätte damit nichts mehr zu tun. Karl umarmt seinen Sohn, erleichtert darüber, dass es eine plausibel erscheinende Erklärung gibt. Und als Manuels Vater bei der Polizei behauptet, auch Thomas gehöre zu den Rechtsradikalen, paukt Karl ihn heraus.

Hanno Koffler als fürsorglicher Vater, dem man nichts Böses zutraut
Konsequent rücken Drehbuch und Inszenierung die Figur des Vaters in den Mittelpunkt, seine wachsenden Zweifel und die Suche nach einer Erklärung. Karl ist gezwungen, sich selbst in Frage zu stellen. Er tut das widerwillig und muss sich am Ende entscheiden: Handeln oder die eigene Familie schützen? Die Fokussierung auf den Vater-Sohn-Konflikt ist zugleich Stärke, aber auch ein bisschen die Schwäche des Films. „Toter Winkel“ ist kein klassischer Themenfilm, gut so. Wie es dazu kommen kann, dass sich behütete junge Männer im kleinstädtischen Mittelschichts-Milieu zu Rechtsextremen entwickeln, will der Film gar nicht erklären – in den Dialogen zwischen Karl und Thomas werden dann aber doch Ansätze angeboten, die zwangsläufig dürftig bleiben müssen. Wird man Neonazi, weil man dem Vater jedes Wort glaubt und schließlich Rassetheorien vom Kaninchen auf Menschen überträgt? Hanno Koffler spielt diesen Thomas als sanften, fürsorglichen Vater, dem man nichts Böses zutrauen mag. Gerade das ist sehr wirkungsvoll, wenn man erzählen will, dass Fremdenhass überall und nicht nur in den abgehängten Milieus Deutschlands gedeihen kann. Sätze wie „Dieses Land ist so scheiß tolerant geworden“, die Thomas seinem Vater in einer Schlüsselszene entgegenschleudert, kommen dann allerdings wie aus dem Nichts dahergeflogen und wirken etwas floskelhaft. Außerdem gibt es ein grundlegendes Glaubwürdigkeits-Problem: Kann man wirklich jahrelang so gar nichts davon mitbekommen, wenn sein eigenes Kind in die rechte Szene abdriftet (bis der Vater dann zum filmisch „richtigen“ Zeitpunkt einen ziemlich schlecht versteckten Umschlag findet)?

Toter WinkelFoto: WDR
Die Familienharmonie zwischen den drei Generationen der Holzers ist sichtlich gestört. Knaup, Gleißner, Koffler, Scholze & Gastdorf. Wer stellt sich hinter wen?

Eine ungeheuerliche Wende nach einer Filmstunde
Doch abgesehen davon, dass dem Drehbuch auch mal ein unwahrscheinlicher Zufall auf die Sprünge helfen muss, entwickelt sich in „Toter Winkel“ eine stringent und spannend erzählte Geschichte. Die Handkamera bleibt nahe an den Figuren, nervt aber nicht durch demonstratives Zappeln und Zoomen. Musik wird – leider mit Ausnahme des Schlussliedes nach dem packenden Finale – zurückhaltend eingesetzt. Und auch der Schnitt setzt besondere Akzente, eindrucksvoll etwa in jener Sequenz nach einer Stunde, als sich Anyás und Karls Geschichten erstmals berühren und gleichzeitig eine Rückblende Klarheit schafft. Vielleicht liegt es an der Begriffsstutzigkeit des Autors dieser Kritik, aber das Ungeheuerliche, das sich in diesem Moment offenbart, hat er nicht erwartet. Im letzten Drittel erhält der Film deshalb einen ganz anderen Charakter. Karl und den beiden Ehefrauen stellt sich nun die Frage nach der Mitverantwortung und wie sich mit einer schrecklichen Gewissheit weiterleben lässt. Man möchte es nicht für möglich halten, wie die einzelnen Figuren reagieren. Aber gerade das macht die Stärke – und den Mut – des Films aus: Nicht die Auflösung anzubieten, die man sich als Zuschauer wünscht oder die man für „realistisch“ hält, sondern die konsequent den Vater-Sohn-Konflikt auf die Spitze treibt und dabei nicht davor zurückscheut, die Identifikationsfigur Anyá einer weiteren Zumutung auszusetzen.

Produzent Geißendörfer zielt „ins Herz und ins Hirn“
„Toter Winkel“ ist ein Familiendrama vor dem Hintergrund fremdenfeindlicher Tendenzen insbesondere in der Mittelschicht. Erschreckend ist nicht zuletzt die Bereitschaft zum Verdrängen, die Haltung, die eigene Familie über alles zu stellen. Insofern könnte man „Toter Winkel“ als eine Art Ergänzung zum ARD-Dreiteiler „NSU – Mitten in Deutschland“ sehen: Er wirkt wie der vierte Teil, der die Perspektive der Angehörigen der Täter einnimmt (allerdings ganz und gar fiktiv und nicht an die realen Geschehnisse angelehnt). In Lacants Inszenierung wird man mit rechtsterroristischer Gewalt nicht annähernd so schonungslos konfrontiert wie in dem Täter-Film über die NSU-Mordserie – mit Ausnahme der extremen Schlüsselszene nach einer Stunde, die so eindeutig an den nationalsozialistischen Vernichtungsfeldzug erinnert. Auch wenn die Kamera letztlich wegblendet, bleibt ein ungutes Gefühl: Als ob noch eins auf die Realität drauf gesetzt werden sollte, um die gewünschte Schockwirkung erzielen zu können. Und dass Wirkung erzielt werden soll, dafür steht schon der Name des Produzenten. „Film als Grundlage für politische Diskussion muss dem Zuschauer mehr bieten als angenehme Unterhaltung – er zielt immer ins Herz und ins Hirn. Ich hoffe, ,Toter Winkel‘ trifft“, wird Hans W. Geißendörfer im ARD-Presseheft zitiert. Das tut der Film gewiss.

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Fernsehfilm

WDR

Mit Herbert Knaup, Hanno Koffler, Emma Drogunova, Johanna Gastdorf, Theresa Scholze, Valentino Fortuzzi, Axel Gottschick, Kasem Hoxha, Ruzica Hajdari, Eve Marie Gleißner

Kamera: Michael Kotschi

Szenenbild: Stefan Schoenberg

Schnitt: Monika Schindler

Musik: Dürbeck & Dohmen

Produktionsfirma: Geißendörfer Pictures

Drehbuch: Ben Braeunlich

Regie: Stephan Lacant

Quote: 4,17 Mio. Zuschauer (13,7% MA); Wh. (2020): 4,85 Mio. (15,6% MA)

EA: 03.05.2017 20:15 Uhr | ARD

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