Der Zweite Weltkrieg, die Abwicklung der DDR, die Hausbesetzungen zu Beginn der Achtziger: In den Kriminalromanen von Elisabeth Herrmann führt die Spur gern in die Vergangenheit. 2011 hat das ZDF begonnen, die Bücher über die Fälle des Berliner Anwalts Joachim Vernau in loser Folge zu verfilmen; die Adaption besorgte die Autorin regelmäßig selbst, die Inszenierung übernahm Carlo Rola. Den Auftakt bildete im Januar 2012 „Das Kindermädchen“. Die Geschichte einer früheren Zwangsarbeiterin, die siebzig Jahre später eine Entschädigung forderte, war eine gelungene Mischung aus Sittengemälde, Krimi und Romanze. Anschließend entwickelte die Reihe jedoch eine ungute Tendenz: „Die letzte Instanz“ (2014), „Der Mann ohne Schatten“ (2015) und „Die 7. Stunde“ (2016), waren gewöhnliche TV-Krimis und lebten in erster Linie davon, dass es Laune macht, Jan Josef Liefers zuzuschauen; selbst er wenn er bloß mit einem Straßenkreuzer durch Havanna fährt.
Mit „Totengebet“ hat die Reihe wieder zur Qualität des ersten Films zurückgefunden. Vernau verbringt diesmal zwar zu Fuß oder per Taxi viel Zeit in den Straßen von New York, aber die mit der typischen Neugier des Europäers gefilmten Szenen sind deutlich besser in die Handlung integriert. Die Geschichte ist ohnehin viel zu verzwickt, um Zeit für eine Stadtrundfahrt zu verschwenden. Die Ermittlungen führen den Anwalt erneut in die Vergangenheit, doch diesmal ist es seine eigene; und darin liegt der große Reiz der Geschichte. Chronologisch beginnt die Handlung mit dem Besuch einer jungen Mandantin: Die Amerikanerin Rachel Cohen (Mercedes Müller) hat auf dem Sterbebett ihres Vaters erfahren, dass sie als Baby adoptiert worden ist. Ihre Mutter Rebecca ist kurz nach der Niederkunft gestorben; nun sucht Rachel ihren Erzeuger. Rebecca war als junge Jurastudentin in Boston Mitglied einer Clique, zu der auch Vernau gehörte. Rachel ist überzeugt, dass einer der Männer, die offenbar alle in die schöne Kommilitonin verknallt waren, ihr Vater ist.
Gemeinsam machen sich der Anwalt und seine Mandantin auf die Suche nach den Kandidaten, aber die Recherche steht unter keinem guten Stern. Irgendjemand scheint mit Gewalt verhindern zu wollen, dass das Rätsel gelöst wird, es kommt zu mehreren Todesfällen, und auch Vernau wird mit seinem Auto von der Straße abgedrängt. Mit den Folgen dieses Unfalls beginnt der Film. Während sich die meisten Thriller damit begnügen, einen Höhepunkt an den Anfang zu setzen und dann zu erzählen, wie es zu diesem Ereignis gekommen ist („Eine Woche vorher“), sind die Rückblenden diesmal Teil einer im Grunde einfachen, aber immerhin etwas originelleren Dramaturgie: Vernau hat durch den Unfall seine Erinnerungen an die letzten acht Tage verloren; als er in einem New Yorker Krankenhaus zu sich kommt, hat er keine Ahnung, warum er nach Amerika geflogen ist.
„Totengebet“ ist der erste Vernau-Roman, den Schriftstellerin Herrmann nicht selbst adaptiert hat. Das Drehbuch stammt diesmal von André Georgi; der Autor für Krimireihen wie „Marie Brand“ und „Unter anderen Umständen“ hat zuletzt die Ermordung von Treuhandchef Rohwedder als spannenden Balance-Akt zwischen Realität und Fiktion geschildert („Der Mordanschlag“, ZDF). Nachfolger des 2016 verstorbenen Carlo Rola ist Josef Rusnak, der auch als Koautor geführt wird; seine letzten Arbeiten waren ein „Polizeiruf“ aus Magdeburg („Starke Schultern“, 2018) sowie die vierte „Tel-Aviv-Krimi“-Episode („Alte Freunde“). Der Regisseur hat gemeinsam mit Kameramann Ralf Noack ein interessantes ästhetisches Konzept entwickelt. Natürlich haben sie die entsprechende Differenzierung bei Lichtsetzung und Farbgebung – die Vergangenheit hell und freundlich, die Gegenwart kühl und nüchtern –, nicht erfunden, aber gerade die Innenaufnahmen sind sehr ansprechend. Als Vernau gemeinsam mit Rachel eine Synagoge aufsucht, um dort seinen alten Freund Rudi (Gustav Peter Wöhler) zu treffen, ist das Gotteshaus in ein geradezu sakrales Licht getaucht. Kurz drauf ist Rudi tot, und Rachel steht unter Mordverdacht. Als es in Amerika einen weiteren Todesfall gibt, fragt sich auch Vernau, ob seine vermeintliche Tochter auf einem Rachefeldzug ist.
Der Film lebt nicht zuletzt von den vielen Fragen, die zu Beginn aufgeworfen werden, zumal es Georgi und Rusnak gelingt, nicht bloß Verwirrung zu stiften, sondern vor allem Neugier zu wecken. Entsprechend spannend sind Vernaus Begegnungen mit den Mitgliedern seiner mit unter anderem Thomas Heinze und Claudia Michelsen angemessen prominent besetzten alten Clique. Die Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit passt zwar ins gleiche Konzept wie der Umgang mit dem Licht (Vernaus Erinnerungen kehren zurück, während ihn ein New Yorker Detective vernimmt), sorgt aber für zusätzliche Spannung, weil die Mosaiksteinchen nach und nach das ganze Bild ergeben. Ein besonderer Reiz liegt in Vernaus Konfrontation mit der eigenen Biografie, und auch diese Szenen hat Rusnak dank mitunter schöner Übergänge kunstvoll in den Handlungsfluss integriert: Auf dem Uni-Campus werfen ein paar Studenten einen Football hin und her, und vor Vernaus geistigen Auge erscheinen er selbst und seine Freunde; die Aufnahmen sehen aus wie verblasste Fotografien. Die interessanteste Frage ist, was vor knapp dreißig Jahren rund um Rachels Geburt passiert ist, als sich ihre Mutter erst auf das Baby gefreut und sich anschließend das Leben genommen hat. Wie in allen Vernau-Geschichten Herrmanns gibt es auch hier historische Schatten, die das Leben der Menschen verdüstern: Rebecca war Jüdin, ein Großteil ihrer Familie ist von den Nationalsozialisten ermordet worden; der Vater ihres damaligen Freundes war Verteidiger im Auschwitz-Prozess.
Einziger, aber nicht unerheblicher Malus neben der Verschwendung Stefanie Stappenbecks in der Nebenrolle als Vernaus Kanzleipartnerin ist die erneut misslungene Integration von Vernaus familiärem Hintergrund: Die Zwischenspiele mit seiner Mutter (Elisabeth Schwarz) und ihrer Freundin (Carmen-Maja Antoni) waren schon in „Der Mann ohne Schatten“ (2015) völlig überflüssig. Die Liebelei von Hildegard Vernau mit einem amerikanischen Trompeter (Friedrich Liechtenstein), den Noack bei einem Auftritt in verklärendes Gegenlicht taucht, hat immerhin den Vorteil, dass Mario Grigorov viel Jazz in seine Filmmusik integrieren kann. Besonders imposant sind die Momente, in denen er Trompetenklänge im Stil von Miles Davis mit Elektronik kombiniert; die Musik würde auch ohne Filmbilder funktionieren. Unbefriedigend ist wie in fast allen Filmen über Deutsche im Ausland dagegen der Umgang mit der Sprache: Die Amerikaner beginnen Gespräche auf Englisch („Excuse me, Sir“) und fahren dann auf Deutsch fort. Glaubwürdig gelöst sind allein die Dialoge Vernaus mit Rachel, denn die war auf einer deutschen Schule. Davon abgesehen gehört Mercedes Müller ohnehin zu den Pluspunkten des Films, zumal sie die junge Frau angemessen sphinxhaft verkörpert.