„Ich sehe tote Menschen“, sagte einst der kleine Junge in dem Mystery-Thriller „The Sixth Sense“ (1999); die nüchterne Feststellung wurde zu einem der berühmtesten Sätze der jüngeren Filmgeschichte. Brünhilde Blum (Anna Maria Mühe) geht es nicht anders, allerdings ist das auch ihr Job: Die Frau, die von allen schlicht Blum genannt wird, ist Bestatterin. Ihr Satz würde lauten: „Ich höre tote Menschen“, denn die Leichen sprechen mit ihr. Ob sie sich das nur einbildet und die Toten bloß Projektionsfläche für ihre Gedanken sind, bleibt offen, aber eine Rückblende in ihre Teenagerjahre deutet an, dass die Verstorbenen durchaus ein Eigenleben führen. Für die eigentliche Handlung dieser sechsteiligen Netflix-Serie spielt das ohnehin keine Rolle, denn das auf dem gleichnamigen Roman von Bernd Aichner basierende Drehbuch erzählt eine ganz andere Geschichte, und die beginnt mit einem Schock: Als Blums Mann Mark, ein Kleinstadtpolizist irgendwo in den Tiroler Alpen, mit seinem Motorrad zur Arbeit fahren will, wird er von einem Auto erfasst. Weil die örtliche Polizei mit Ausnahme seines Freundes Massimo (Felix Klare) wenig Ehrgeiz zeigt, den flüchtigen Fahrer ausfindig zu machen, übernimmt Blum die Suche kurzerhand selbst.
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Ginge es nur um diesen Aspekt, würde der Stoff auch inklusive der Spannungen zwischen der Heldin und ihrer Teenagertochter (Emilia Pieske) gerade mal für neunzig Minuten reichen; gäbe es da nicht diese seltsamen Hinweise in Marks Sachen. Sie führen Blum schließlich zu einer Osteuropäerin, die ihr Mann in einer Waldhütte versteckt hat: Dunja (Romina Küper) ist die einzige Zeugin eines Verbrechens von derartiger Grausamkeit, dass es mit Worten kaum zu beschreiben ist. Die junge Frau erzählt, dass einer der vier Beteiligten die furchtbaren Taten mit einer Polaroidkamera dokumentiert hat. Diese winzige Spur genügt Blum, und nun beginnt ein Rachefeldzug, in dessen Verlauf einige angesehene Bürger auf der Strecke bleiben; und wer könnte die Leichen besser verschwinden lassen als eine Bestatterin.
Die Handlung ist auch dank diverser Rückblenden von eindrucksvoller Vielschichtigkeit. Eine dieser Ebenen erzählt von Blums offenbar wenig ersprießlicher Jugend als Adoptivtochter; die Auftakttaktfolge deutet noch vor dem clever gestalteten Vorspann an, warum die etwas unempathisch wirkende Bestatterin auch als Mörderin gut schlafen kann, wie sie ihrem Mitarbeiter Reza (Yousef Sweid) versichert. Netflix empfiehlt die Serie ab 16 Jahren, und das ist nicht allein wegen der dargestellten Gewalt durchaus angebracht; Dunjas alptraumhafte Erinnerungen sind der pure Horror. Die Präparierung der Verstorbenen könnte ebenfalls verstörend wirken, und das nicht nur, weil sie scheinbar zum Leben erwachen: Als eine Leiche nicht in den Sarg passt, wird sie eben passend gemacht.
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Großen Anteil an der Komplexität hat die charakterliche Tiefe vieler Figuren. Blum dürfe niemandem trauen, schärft ihr eine Frau ein, die Mark zu Dank verpflichtet ist, und tatsächlich entpuppt sich so mancher Sympathieträger als Unhold, weshalb es umso bedauerlicher ist, dass „Schneekönigin“ Johanna Schönborn (Michou Friesz), die uneingeschränkte Herrscherin des Tals, auf Anhieb als eiskalte Gegenspielerin identifizierbar ist. Der Rest der rund ein Dutzend Nebenfiguren ist weniger eindeutig und zudem mit unter anderem Simon Schwarz, Shenja Lacher, Gregor Bloéb, Robert Palfrader und Gerhard Liebmann hochinteressant besetzt. Eine gleichermaßen winzige wie wichtige Rolle spielt Peter Kurth als Investor in Schönborns Pläne vom größten Skigebiet Europas, der quasi erst in der letzten Szene das Wort ergreift, damit aber die Vorlage für eine etwaige Fortsetzung liefert.
Allerdings hätte sich „Totenfrau“ problemlos auch deutlich kürzer erzählen lassen. In jeder Folge schwingt sich Blum mehrfach auf Marks Motorrad, um waghalsig durch die verschneite Landschaft zu rasen; das sorgt zwar dank der interessanten, mitunter aber zu bombastischen Musik (Patrick Kirst) für allerlei Dynamik, ufert aber auch ein bisschen aus. Unnötig ausführlich sind zudem die Szenen der kaputten Beziehung von Massimo, selbst wenn das Eheende die Voraussetzung dafür ist, dass sich Marks Freund und Blum schließlich näher kommen. Umso fesselnder ist die Krimiebene, zumal die sechste Episode, als die Geschichte zu Ende zu sein scheint, für eine raffiniert eingefädelte Wende sorgt. Ungewöhnlich ist auch die Rolle für Anna Maria Mühe, denn bevor die Witwe die Mitglieder der Mörderbande ins Jenseits befördern kann, muss sie sich regelmäßig ihrer Haut erwehren. Filmische Prügeleien sind in der Regel detailliert choreografiert, aber die sehr echt wirkenden Handgreiflichkeiten lassen vermuten, dass sie der Hauptdarstellerin trotzdem einige blaue Flecke beschert haben. Regisseur Nicolai Rohde, der auch an der Arbeit des insgesamt fünfköpfigen Drehbuchteams beteiligt war, hat zuletzt mit Axel Milberg einen vor allem hintergründig spannenden Krimi aus Kiel („Tatort: Borowski und der Schatten des Mondes“, 2022) und davor unter anderem für Sat 1 die beiden sehenswerten „Julia Durant ermittelt“-Krimis (2019) gedreht.