„Tore tanzt“ ist harter Tobak. Im Zentrum steht die titelgebende Hauptfigur Tore (Julius Feldmeier), über die der Zuschauer zunächst nichts weiter erfährt, als dass der junge Mann kürzlich den Jesus-Freaks, einer modernen christlichen Bewegung, beigetreten ist. Während Tore und seine Freunde sich äußerlich kaum von anarchischen Punks unterscheiden, versuchen sie, der Lehre Jesu in all ihren Aspekten Folge zu leisten. Und so ist es für Tore auch keine Frage, dass er Benno (Sascha Alexander Gersak) zur Hilfe eilt, als dieser mit einer Autopanne auf einem Rastplatz liegenbleibt. Mit den Händen auf der Motorhaube spricht der frisch gebackene Jesus Freak ein eindringliches Gebet und – wie von Geisterhand – springt der Motor an. Aus dieser kurzen Begegnung entwickelt sich eine Freundschaft. Als Tore erkennt, dass seine religiösen Freunde das Wort Gottes nicht immer auf die Goldwaage legen, verlässt er die christliche Kommune und findet bei Benno und seiner Familie eine neue Heimat.
„Auf der einen Seite ist dieser Film ein ungemein sicher inszeniertes Debüt, das um die Möglichkeiten des Kinos weiß, sei es bei dem geschickten Einsatzes des Tons, bei der raffinierten Lichtsetzung und bei den perfekt besetzten Schauspielern… Doch auf der anderen Seite ist ‚Tore tanzt‘ auch ein grausamer, unbarmherziger Film, der dem Zuschauer nichts, aber auch gar nichts ersparen mag… Die Regisseurin überschreitet bewusst Grenzen und löst körperliches Unbehagen aus, zumal Mitleid und Identifikation hier keine Option sind.“ (Spiegel)
Insbesondere zu der pubertierenden Sanny (Swantje Kohlhof) kann Tore schnell eine Beziehung aufbauen. Doch je näher sich die beiden kommen, umso mehr schwingt Bennos Gastfreundschaft in Feindseligkeit um. Mit seiner devoten Lebenshaltung und schier unendlichen Naivität wird Tore mehr und mehr zum Opfer des herrschsüchtigen Mannes, der nicht nur den frommen Dauergast, sondern vor allem seine Frau und seine Stieftochter terrorisiert. Doch statt sich dieser brenzligen Situation zu entziehen, glaubt Tore, in Benno eine göttliche Prüfung gefunden zu haben und entschließt sich, alles Erdenkliche auf sich zu nehmen, um Sanny von ihrem harten Los zu befreien. Tore ist ein echter Märtyrer. Aus Liebe zu Sanny erträgt er die schrecklichsten Demütigungen. In der Darstellung der katastrophalen Familienverhältnisse bleibt dem Zuschauer nichts erspart. Gewalt, Vergewaltigung, Erniedrigungen – darin spiegelt sich in der Tat die Leidensgeschichte Jesu. Katrin Gebbe gibt keine klaren Anweisungen, wie sie ihren Film verstanden wissen will. Will die Autor-Regisseurin die übertriebene christliche Demut kritisch beleuchten oder vielleicht doch eine zeitgenössische Jesus-Geschichte erzählen? „Tore tanzt“ überfordert & lässt niemanden kalt.
„Katrin Gebbe konstruiert den Blutrausch, in dem ‚Tore tanzt‘ endet, aus einer Alltagssituation heraus. Und stellt damit die Frage, ob hier neben den Perversionen der Täter nicht auch ein gewisser Masochismus des Opfers eine Rolle spielen könnte… Dieser Versuchsaufbau zwischen Machtgeilheit und Unterwerfungs-Phantasie stellt wesentlich beunruhigendere Fragen zur menschlichen Konstitution als so manch anderer Sadismus-Film der vergangenen Jahre.“ (Süddeutsche Zeitung)
Beim Filmfestival in Cannes 2013 gab es zunächst Buh-Rufe für diesen mutigen Debütfilm, diese Studie einer Märtyrer-Existenz, die die dunklen Seiten des Seelenlebens anspricht und so jeden Zuschauer an seine individuellen Grenzen führt. Dieser Film schmerzt, er verunsichert, lässt sich nicht „konsumieren“. Auch ich verspürte beim Abspann deutliche Erleichterung darüber, diese furchtbare Geschichte nicht mehr ertragen zu müssen. Ich bin andererseits aber voller Bewunderung für diesen mutigen und überzeugenden Film, für Gebbes souveräne Schauspielerführung und die großartige Leistung von Hauptdarsteller Julias Feldmeier. Das sah dann auch das Premierenpublikum so: Nachdem die Buh-Rufe abgeebbt waren, erhob sich die Mehrheit im Saal zu anhaltenden, stehenden Ovationen. (Text-Stand: 24.5.2013)