Ein Kuss ist das Normalste der Welt, wenn sich zwei Menschen mögen. Bei Tonio Niederegger (Maximilian Grill) und Julia Schindel (Oona Devi Liebich), die in ihrer Jugend mal ein Paar waren, liegt der Fall allerdings anders: Toni ist katholischer Pfarrer. Entsprechend hadert er mit seinem Verhalten und sieht keine andere Möglichkeit, als Julia ihre Stelle in der katholischen Ehe- und Familienberatung nicht zu verlängern. Aber Probleme kennen keine Kündigungsfrist – und so sind die Tölzer Seelenretter gleich wieder im Einsatz. Ein junger Mann ist gegen einen Baum gefahren. War es der Alkohol oder eine unglückliche Liebe? Als der Profi-Sportler ein Bein verliert, machen sich sein Vater (Heikko Deutschmann) und seine Ex-Freundin (Pia Soppa) große Vorwürfe, allein seine Mutter (Catherine Flemming) scheint jede Mitschuld von sich zu weisen. „Wieso lässt Ihr Gott sowas zu?“ Diese Frage muss sich Tonio auch im zweiten Fall stellen lassen. Er selbst hat keine Mediation gebraucht, um einzusehen, dass er und Julia „ein gutes Team“ sind. Beim Ehepaar Bittl (Barbara Philipp, Ulrich Gebauer) scheint dagegen nichts mehr zu gehen in Richtung Einsicht und Versöhnung. Erst als ein geliebter Mensch aus Julias Freundeskreis stirbt und als ihr Vater (Dietrich Adam) glaubt, dass auch er nicht mehr lange zu leben habe, hilft die Familientherapeutin dem zerstrittenen Paar mit existenziellen Fragen: „Haben Sie sich schon mal vorgestellt, wie es wäre, wenn einer von Ihnen beiden stirbt? Hat sich das gut angefühlt? Es erleichtert, wenn der andere weg wäre? Was würden Sie Ihrem Mann noch gerne sagen, bevor er stirbt?“
Sterne-Vergabe im Detail:
„Schuldgefühle“ (1) + „Schulden und Sühne“ (4) bekommen drei kräftige Sterne, „Wenn einer geht“ (2) + „Ein neues Leben“ (3) haben sich 3,5 Sterne verdient.
Nicht immer verbinden sich die Geschichten innerhalb der Episoden von „Tonio & Julia“ so stimmig wie in „Wenn einer geht“, dem zweiten der vier neuen Filme der ZDF-Reihe. Weil der Plot nicht überfrachtet ist, weil das umfangreiche, allerdings nur sporadisch auftretende durchgehende Personal dem Zuschauer den Eindruck von Alltagsnähe gibt und weil die Geschichten beiläufig & entspannt ineinanderfließen, ist die Wirkung auf der Zielgeraden umso intensiver – und man hat nicht den Eindruck, dass hier nur mit emotionalisierenden Versatzstücken gearbeitet würde. Tragische Momente mit dem Thema Tod zu erzielen ist in Filmen in der Regel leicht zu haben. Hier aber wird die Traurigkeit nicht 1:1 abgebildet, sondern mit einer atmosphärischen Montage angemessen filmisch umgesetzt – und die Heldin zieht aus dieser Trauer für ihre Arbeit die richtigen Schlüsse. Ihre Erfahrung mit dem Tod kommt einem anderen Paar zugute. Der Tod gehört also nicht nur zum Leben, die Konfrontation mit dem Tod kann auch hilfreich für die eigene Existenz sein. Auch wenn es am Ende des Films von Stefan Bühling für die Hauptfiguren nicht unbedingt danach aussieht. Und „Dont’t Give Up“ von Peter Gabriel und Kate Bush lässt sich so oder so interpretieren.
Nach dem konventionellen Beziehungsgeplänkel in der Startepisode „Schuldgefühle“, die sich 90 Minuten Zeit lässt, bis sich das, was der Zuschauer längst weiß („Tonio & Julia“ kommt ja mit vier neuen Episoden, also müssen sich die beiden auch wieder zusammenraufen), endlich bewahrheitet, und deren „Fall“ um Schuld, Einsamkeit (in der Ehe), Freundschaft, Neid und das unvermeidliche Nichtloslassenkönnen wenig zwingend erzählt ist, steigert sich die Reihe mit der beschriebenen Todes-Episode – und mit dem dritten Film: „Ein neues Leben“. Autorin Katja Kittendorf führt hier dem Zuschauer vor, dass bei Familienschwierigkeiten alle Mitglieder betroffen sind. In diesem Fall ist die Mutter (Friederike Linke) der Ausgangspunkt für die Dysfunktionalität. Sie ist Schlaganfallpatientin, die Reha-Maßnahmen verweigert und stattdessen in Depressionen verfällt. Sie hasst ihr Leben – eine Botschaft, die sie an ihren überforderten Mann (Omar El-Saeidi) und ihren gefrusteten Sohn (Kieran Reitberger) unmissverständlich weitergibt. Doch schlimmer noch: Sie empfindet nichts mehr für ihre Familie. So klar – im Rahmen eines Unterhaltungsfilms – das Krankheitsbild auch beschrieben wird, so sehr sind hier doch am Ende vor allem dramaturgische Heilungskräfte, inklusive individuelle Willensstärke („Ich gebe mir Mühe“), am Werk. Plausibler dargestellt wird dagegen das Interaktionsmuster, die gegenseitige Abhängigkeit, die auch die beiden „Männer“ der Familie krank macht. Vor allem der Heilungsprozess des Sohnes, den der Pfarrer unter seine Fittiche nimmt, bevor er bei den Schindels ein und aus geht, bindet das Reihen-Personal geschickt ein und ist ein launiger Kontrapunkt zur aggressiven Schwermut der weiblichen Episodenhauptfigur. Feelgood-like sind auch die Momente, in denen sich der Vater Zeit für seinen Sohn nimmt. Da hätte es gar nicht des konventionellen Popmusik-Teppichs bedurft, der ja immer häufig dann in Filmen eingesetzt wird, wenn sich deren Regisseure erzähltechnisch unsicher sind. Der Soundtrack zum vierten Film, „Schulden und Sühne“, ist zwar etwas zurückhaltender, die Geschichte dafür gröber gerastert, da sich die Julia-und-Tonio-Beziehung in der Staffel-Schlussepisode zuspitzen muss. Aber auch der Problemplot um einen handgreiflichen, verschuldeten Dachdecker (Andreas Nickl) und seine Frau (Bettina Mittendorfer), die die überkommenen Rollenmuster in ihrer Ehe nicht länger mitmachen will, liebäugelt mehr mit narrativen Stereotypen (Selbstmord als letzte Lösung, Versöhnung im Angesicht des Todes) als mit nachhaltigen psychologischen Lösungen.
Filmisch sind die vier Filme absolut solide. Die Landschaft wird oft atmosphärisch eingesetzt, nicht als Stimmungsgenerator wie im klassischen Heimatdrama, sondern allenfalls als Stimmungsverstärker. Immer wieder liegen morgendliche Nebelfelder über dem Tölzer Land; aber der Großteil der Szenen findet (im Gegensatz zum Beispiel der „Frühling“-Reihe) in Innenräumen statt. Rasche Szenenwechsel oder Parallelmontagen sorgen allerdings dafür, dass die Anmutung insgesamt eher abwechslungsreich statt steril wirkt. Der Erzählrhythmus stimmt, ebenso der Bilderfluss. In der Regel wird auch darauf verzichtet, Momente höchster Dramatik von den Schauspielern allein darstellen zu lassen. Assoziative Montagen bringen dagegen den Ernst der Situation (die Reaktionen nach dem Autounfall in Episode 1 oder die Ereignisse um den plötzlichen Todesfall in der zweiten Episode) sehr viel stimmiger und stimmungsvoller zum Ausdruck.
Das Meiste über die ZDF-Reihe, die zum Auftakt sehr viel mehr versprach, als sie am Ende hielt, kam im tittelbach.tv-Grundsatztext vor einem Jahr zur Sprache. Der Ärger über die ästhetische und thematische Mutlosigkeit im öffentlich-rechtlichen Fernsehen der leichten Gangart ist keineswegs verklungen, aber auch der Kritiker ist nicht gefeit gegen das Rezeptionsmuster „Bis es euch gefällt“, auf das ja der Großteil der TV-Unterhaltung setzt und in diesem Fall auch das ZDF, indem es gleich vier Episoden nachschießt. Und das Kritiker-Urteil ist immer auch abhängig von den Erwartungen. Die waren angesichts der Enttäuschung vor einem Jahr nun entsprechend niedriger. Und verglichen mit anderen Reihen des sogenannten Mutter-Teresa-Genres schneidet „Tonio & Julia“ ja keineswegs schlechter ab. Oona Devi Liebich besitzt alles, was man für diese Figur und diese Geschichten braucht: eine große Bodenständigkeit, ein einnehmendes Wesen, eine natürliche, unverstellte Art, die keinen Unterschied macht zwischen Leben und Film und so die Heldin zu Everybody’s Darling werden lässt. Bei Liebich weiß man nicht, wo hört die Figur auf, wo fängt die Privatperson an. Dass ihr die Autorinnen zudem Klarheit, Ruhe und eine große emotionale Kompetenz ins Drehbuch geschrieben haben, verstärkt noch den Sympathie-Bonus. Und diese Julia Schindel stellt in der Paarberatung stets die richtigen Fragen. Gefühlt hat sie den Menschen mehr zu sagen und zu geben als der wankelmütige Gottesmann, der im Gegensatz zu Julias Offenheit einen Hang zur Heimlichtuerei an den Tag legt. Die Gründe dafür sind keine Charakterfrage, sondern sie sind amouröser Natur: Tonio empfindet offenbar immer noch etwas für seine Jugendliebe, mehr als der Herrgott erlauben würde. Das immer ein wenig mitzuspielen, ohne zu bedeutungsvoll zu werden, ist eine Gratwanderung, die Maximilian Grill zumeist recht gut bewältigt. Der hin- und hergerissene Pfarrer, den der Generalvikar (Lambert Hamel) für höhere Aufgaben massiv abzuwerben versucht, ist das Gegenbild zum Sonnenschein Julia: nachdenklich, ernst, aber auch (emotional) widersprüchlich. Tonios Anspannung verstärkt sich, als ein Arzt (Nicholas Reinke) ins Spiel kommt, der ein Auge auf die schöne Therapeutin geworfen hat. Und sie wirft sogleich ihr bezauberndes Lächeln zurück. Als „old School“ bezeichnen die beiden selbst ihr Dating-Verhalten. Die Heimatfilm-Zielgruppe wird es ihnen gewiss danken. So hält sich „Tonio & Julia“ alle Türen offen für mögliche Fortsetzungsfilme.