Toni, männlich, Hebamme – Eine Klasse für sich

Leo Reisinger, Hegenbarth, Linkemann, Stojetz, Sybille Tafel & die Kunst der Dramedy

Foto: Degeto / Jacqueline Krause-Burberg
Foto Tilmann P. Gangloff

Wenn die Titelfiguren der Freitagsreihen im „Ersten” Unrecht wittern, betrachten sie Widerstand als ihre Pflicht. Deshalb mischt sich der von Leo Reisinger sehr tiefenentspannt verkörperte Geburtshelfer prompt ein, als einer jungen Frau mit Down-Syndrom die Erfüllung ihres Berufswunschs verwehrt wird: Wanda will Hebamme werden. Wie Luisa Wöllisch diese Rolle interpretiert, ist unbedingt preiswürdig. Auch die zweite Episode von „Toni, männlich, Hebamme“ (Degeto / Bavaria) behandelt mit der Vereinbarkeit von Familienleben und politischen Ambitionen ein hochaktuelles schwieriges Thema. Wie es Regisseurin Sibylle Tafel und Reihenschöpfer Sebastian Stojetz gelingt, den Filmen trotz allem einen vorwiegend heiteren Tonfall zu geben, obwohl die Drehbücher auch selten thematisierte Aspekte wie etwa eine Fehlgeburt berücksichtigen, ist erneut beeindruckend.

Wenn in Filmen oder Serien Menschen mitwirken, die aufgrund geistiger oder körperlicher Beeinträchtigungen von der Norm abweichen, sind ihnen die Sympathien gewiss. Das ist zwar verständlich, aber auch eine Form von positiver Diskriminierung. Zwar sind die Leistungen zumeist tatsächlich beeindruckend, schließlich sind die entsprechenden Mitwirkenden ja nicht aufs Geratewohl besetzt worden, aber natürlich gibt es Qualitätsunterschiede. Wie Luisa Wöllisch in diesem Film ihre Rolle interpretiert, ist allerdings unbedingt preiswürdig; und das hat nichts damit zu tun, dass sie Trisomie 21 hat, selbst wenn die Chromosomen-Anomalie natürlich ein wichtiges Merkmal der jungen Frau ist, die sie verkörpert.

Toni, männlich, Hebamme – Eine Klasse für sichFoto: Degeto / Jacqueline Krause-Burberg
Einer der komischen Momente: Die Männer-WG von Toni (Leo Reisinger) und Franzl (Frederic Linkemann) ist immer für eine Gaudi gut. Der Drama-Komödien-Mix passt.

„Toni, männlich, Hebamme“ ist eine jener Reihen, die bei Fernsehpreisen meist übersehen werden, obwohl ihnen auf handwerklich hohem Niveau eine vorbildliche Verknüpfung von Anspruch und Unterhaltung gelingt. Die schlüssige Kombination komischer und tragischer Momente ist zudem ungleich schwieriger als das reine Drama: weil stets die Gefahr besteht, dass die heitere Ebene den dramatischen Teil der Geschichte entwertet. Regisseurin Sibylle Tafel, die bislang alle Episoden inszeniert hat und als Koautorin an den Drehbüchern von Reihenschöpfer Sebastian Stojetz beteiligt war, bewältigt die Herausforderung dieser Gratwanderung regelmäßig mit einer beeindruckenden Souveränität.

Der Arbeitstitel der siebten Episode, „Eine Klasse für sich“, lautete „Ein stinknormales Leben“, und genau das ist es, was Wanda anstrebt: ein Leben mit Freund, Job und Wohnung. Geschickt setzt die Auftaktszene gleich zwei der drei Themen des Drehbuchs: Toni (Leo Reisinger) hilft Praxispartnerin Luise (Wolke Hegenbarth) beim Umzug in die Wohnung ihres neuen Freundes Sami (Marcel Mohab). Dessen Schwester Wanda erkennt mit einem Blick, dass er bloß gute Miene zu dieser Liaison macht; die gegenseitige Eifersucht der beiden Männer wird schließlich in einer vor allem für Toni schmerzhaften Auseinandersetzung gipfeln. Wanda arbeitet in einer Behindertenwerkstatt, Toni will sie auf dem Heimweg dort absetzen, aber dann kommt ein Notruf dazwischen. Wanda assistiert ihm bei der Hausgeburt und erweist sich als Naturtalent. Das Erlebnis hat sie derart begeistert, dass sie nun Hebamme werden möchte, aber ohne Schulabschluss wird sie gar nicht erst zur Ausbildung zugelassen.

Toni, männlich, Hebamme – Eine Klasse für sichFoto: Degeto / Jacqueline Krause-Burberg
Einer der dramatischen Momente von „Eine Klasse für sich“. Wanda (Luisa Wöllisch) bekommt bei ihrem neuen Berufswunsch Unterstützung von Toni (Leo Reisinger). Aber ist es realistisch, mit Trisomie 21 Hebamme werden zu wollen?

Neben der Verbindung dieser ernsten Ebene mit einem witzigen Nebenstrang, in dem Tonis WG-Kumpan Franzl (Frederic Linkemann) Besuch von seiner übergriffigen Mutter Malu (Charlotte Schwab) bekommt, liegt die eigentliche Qualität des Drehbuchs in der Balance zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Die Empathie mit Wanda, die offenkundig viel zu klug ist, um den Rest ihres Lebens Flaschenstöpsel herzustellen, weckt Empörung. Andererseits ist die Erklärung von Tonis früherer Chefin Evi (Juliane Köhler), warum Wanda keine Geburten eigenständig durchführen darf, nicht minder plausibel. Immerhin kann sie, nachdem sie einen Stresstest mit gleich drei Simulationspuppen bestanden hat, bei Toni eine Ausbildung zur Hebammenassistentin machen. Ähnlich realistisch behandelt der Film die Kinderfrage, auch hier offenbart sich eine Kluft zwischen Theorie und Praxis, als sich Wanda verliebt: Natürlich möchte Luise, dass auch Menschen mit Down-Syndrom selbstbestimmt Nachwuchs bekommen können; aber sie fürchtet, dass das Kind letztlich bei Sami und ihr landen wird.

Endgültig zu einem besonderen Werk wird „Eine Klasse für sich“, weil Tafel es geschafft hat, diesen potenziellen Dramastoff als Komödie zu arrangieren, zumal das Buch der Episoden-Hauptdarstellerin tolle Dialoge beschert. Auf dem Weg zur Niederkunft warnt Toni die junge Frau, so eine Geburt sei kein Kindergeburtstag, woraufhin sie pfiffig kontert: „Im Grunde ja schon.“ Ähnlich trocken trägt Luisa Wöllisch Wandas witzige Sarkasmen vor. Auch die Botschaft ist gut integriert. Als sich die anderen Kursteilnehmerinnen über sie lustig machen, weil sie aufgrund einer Lernschwäche Probleme mit den lateinischen Fachbegriffen hat, platzt Wanda der Kragen: „Trisomie ist keine Krankheit, ich bin einfach nur anders!“ Comedy pur ist dagegen die Ebene mit Franz und Malu, weil der Sohn seiner Mutter eine Beziehung mit Luise vorgaukelt: Er fürchtet, dass die Psychologin und Sexualtherapeutin, die ihn einst schon als Vorbild für ein Buch über typische Teenagerprobleme missbraucht hat, ihm angesichts seiner Verbindung mit der 15 Jahre älteren Evi einen Ödipus-Komplex andichten wird.

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Reihe

ARD Degeto

Mit Leo Reisinger, Wolke Hegenbarth, Frederic Linkemann, Christine Schwab, Marcel Mohab, Soogi Kang, Luisa Wöllisch, Juliane Köhler, Anselm Juhani Müllerschön, Stefanie von Poser

Kamera: Florian Schilling

Szenenbild: Peter Robert Schwab

Kostüm: Eva Kantor

Schnitt: Melania Singer

Musik: Marco Meister, Robert Meister

Soundtrack: Noah & The Whale „5 Years Time“ (Vorspannsong)  Queen („We Will Rock You”), The Puppini Sisters („Mr. Sandman”)

Redaktion: Sascha Mürl, Christoph Pellander

Produktionsfirma: Bavaria Fiction

Produktion: Lucia Staubach

Drehbuch: Sebastian Stojetz, Sibylle Tafel

Regie: Sibylle Tafel

Quote: 3,07 Mio. Zuschauer (10,8% MA)

EA: 17.03.2023 20:15 Uhr | ARD

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