Bei Tilo Neumann (Christoph Maria Herbst) hängt die Stimmung auf Halbmast. Gerade hat der Gymnasiallehrer seine Deutschklasse verabschiedet, und auf seine Frage „Was habt Ihr bei mir gelernt, was wichtig ist?“ folgt ein langes Schweigen. Mit dem Beginn der Sommerferien droht der im letzten Jahr so schwer gebeutelte Mann endgültig in das verspätete Midlife-Krisenloch zu fallen. Scheidung von seiner Frau Jana (Christina Große), ein unwürdiges Single-Dasein, die Beziehung zu Tochter Alice (Hannah Schiller) auf einem Tiefpunkt, das zum Vater (Hannes Hellmann) irreparabel, sein einziger Freund, Siggi (Ronald Kukulies), ist bei näherer Betrachtung ein egoistischer Vollpfosten, und jetzt auch noch Swen (Mirco Kreibich), der Klangschalen-Guru und Janas neuer Lover, der sich in seinem Haus auslebt. Ein Schnaps-Drogencocktail gibt Tilo fast den Rest. Hat er es darauf angelegt? Nachdem, die schlimmsten Ereignisse seines Lebens an seinem inneren Auge vorbeigezogen sind, hat er ein Erweckungserlebnis. Das Universum will den lebensmüden Lehrer noch nicht gehen lassen – und schickt ihm eine Stimme, eine weibliche Stimme, die es gut mit ihm meint. „Für jeden Menschen, dem Du hilfst, helfe ich Dir.“ Tilo bleibt nichts anderes übrig, als auf das Angebot einzugehen. Die Stimme hat jedenfalls nicht vor, aus seinem Kopf zu verschwinden.
Wie ein hochgradig Suizidgefährdeter, der seinen Todestrieb allerdings abstreitet und der völlig Psychotherapie-resistent ist, wieder hellere Momente erlebt, ja mitunter sogar Gefallen findet an dieser femininen, lebensklugen Helferin, die sich in seinem Kopf eingenistet hat, davon erzählt die TVNow-Serie „Tilo Neumann und das Universum“ mal köstlich amüsant, mal ernsthaft tragisch. Diese ebenso freundliche, bestimmende wie streitbare Stimme, die Elena Uhlig wunderbar lebendig und nuancenreich Realität werden lässt, bringt nach und nach wieder ein Stück weit Sinn in das Leben des Helden, der natürlich ein Christoph-Maria-Herbst-typischer Anti-Held ist. „Alles wird gut“, verspricht die Stimme. Tilo Neumann kann es nicht schnell genug gehen. Aber Veränderung dauert. „Ein Jahr und elf Monate“, heißt es bereits in der ersten Folge. Denn es wird Rückschläge geben, die Erinnerung – an den Kotzbrocken-Vater, den Tod der Mutter, die Affäre mit einer Kollegin oder das „rote Tuch“ Swen – wird Tilo immer wieder dicke Striche durch die Rechnung machen. Die Stimme, die sich als Stimme der Vernunft entpuppt, kann manchmal, aber nicht immer Schlimmeres verhindern. Noch in der letzten Folge der acht 23-Minüter redet sie sich in Rage: „Wie kann man denn so schlecht drin‘ sein, logische Zusammenhänge herzustellen?“ Sie beamt ihn sogar durch den Raum; doch den Sinn, den er in dieser Teleportation sieht, ist nicht der, den sie ihm vermitteln will. Irgendwie wird das Ganze schon gut, aber anders gut als gedacht. Und es kann noch besser werden. Auserzählt jedenfalls ist diese Top-Serie von Autorin und Creative Producerin Sonja Schönemann („Unter Gaunern“, „Der letzte Cowboy“, „Merz gegen Merz“) und Regisseur Julian Pörksen („Aus dem Tagebuch eines Uber-Fahrers“) noch längst nicht.
„Tilo Neumann und das Universum“ erzählt von dem mitunter beschwerlichen Weg zum Glück oder zumindest zu mehr Optimismus – inklusive eines Wechsels der egozentrisch- selbstgefälligen Perspektive zugunsten eines objektiveren Blicks. Die Strukturierung dieser Dramedy im klassischen Comedy-Format tut dem Erzählten gut. Die Serie wirkt bei allem Lebensverdruss der Hauptfigur und trotz der Herbst-bekannten neurotischen Nörgelarien komisch frisch, intellektuell anregend, und sie bleibt stets kurzweilig. Zusätzliches Tempo erhalten die Folgen durch das spielerische Aufbrechen der Chronologie. Komödie darf alles: Zeitsprünge, sogar Rückblenden in Rückblenden schalten oder die Musik, den Soundtrack des Lebensmüden, entscheidend in die Geschichte eingreifen lassen: von „Paranoid“ über „Wish You Were Here“ bis zu „I’m sorry“ oder „Money Money Money“. Und das Genre kann es sich leisten, eine Hauptfigur im Off zu belassen. Dass so etwas funktionieren kann, wenn über den Plot hinaus die Stimme etwas Sinnlich-Erotisches besitzt, hat Spike Jonze gezeigt in seinem Kinofilm „Her“ (2013) um einen nicht minder vom Leben Gezeichneten, der sich in die weibliche Stimme seines Computer-Betriebssystems verliebt. Uhligs Organ versprüht nicht die Sexyness von Scarlett Johansson (oder Luise Helm in der Synchro), aber sie ist dafür noch allwissender, da ihre Kommunikation auf Erfahrung aufbaut und nicht auf dem Abspeichern von Datensätzen. Und sie hat mehr Humor, der immer wieder in Gags (sie überrascht ihn beim Im-Stehen-Pinkeln) und köstlichen Anmerkungen (über Freund Siggi: „eine Parkuhr wäre hilfreicher als Zuhörer“) gipfelt. Auch das Wiederholen markanter Momente hat etwas „Murmeltier“-likes: Tilo kommt nicht raus aus seiner Verhaltens- und Erinnerungsschleife.
Um die prominente Referenzliste vollständig zu machen: Diese Serie, die ihre Premiere auf TVNow feiert und 2021/22 auf Vox zu sehen sein wird, erinnert ein wenig, was Erzählweise und Themen angeht, an den frühen Woody Allen. Auch er bezog immer wieder das Universum in seine Filme ein, allerdings legte er dabei eine pessimistischere Weltsicht („Das Universum expandiert…“) an den Tag. In „Tilo Neumann und das Universum“ indes versucht die Stimme ohne Unterlass, dem Zweifler, den Sinn seiner Existenz deutlich zu machen. Hätte er seine Therapeutin nicht gedrängt, sich von ihm im Auto mitnehmen zu lassen, wäre sie von einem LKW erfasst worden. Und ohne ihn wäre die Frau, der er den Weg gezeigt hat, nicht rechtzeitig zum Vorstellungsgespräch gekommen, hätte den Job nicht gekriegt, ihren Mann nicht kennengelernt und nicht das Kind bekommen, das eine bahnbrechende Erfindung machen würde. Kleine Gesten mit großer Wirkung. Die Stimme sensibilisiert Tilo für den Wert der kleinen Dinge im Leben. Und größere werden folgen. Wir sind hier in einer deutschen Großstadt, aber die narrativen und moralischen Parallelen zur US-Kleinstadt Bedford Falls und zu Frank Capras „Ist das Leben nicht schön?“ sind unübersehbar.
Soundtrack: (1) Abba („The Winner Takes It All“), Black Sabbath („Paranoid“), Bill Withers („Ain’t No Sunshine“), AC/DC („Highway To Hell“), Queen („Bohemian Rhapsody“), Pink Floyd („Wish You Were Here“), Cock Robin („The Promise You Made“), Mike Oldfield („Moonlight Shadow“), Sasha („Lucky Day“); (2) Brenda Lee („I’m Sorry“), Laid Back („Bakerman“), Turtles („Happy Together“), Fury in the Slaughterhouse („Time To Wonder“); (3) Chris de Burgh („The Snows of New York“); (4) War („Lowrider“), R.E.M. („Everybody Hurts“), Abba („Money Money Money“); (5) Elvis Presley („Don’t Be Cruel“), Maurice Williams & the Zodiacs („Stay“), Drifters („Under the Boardwalk“), Rolling Stones („Paint It Black“), Cat Stevens („Father and Son“), Nana Mouskouri („Guten Morgen, guten Morgen“); (6): Queen & David Bowie („Under Pressure“), Steve Miller Band („The Joker“), Madonna („Like a Prayer“); (7) Eric Carmen („All By Myself“), Nirvana („Smells Like Teen Spirit“), Bobby McFerrin („Don’t Worry Be Happy“), Toto („Africa“); (8): Stevie Wonder („Happy Birthday“), U2 („I’m Still Having Found Whai I’m Looking For“), Yefferson Airplane („White Rabbit“), Bee Gees („Staying Alive“), Verve („Bittersweet Symphony“)
Hat sich die Serie auch bewusst oder unbewusst deutlich inspirieren lassen von der (amerikanischen) Komödiengeschichte, so findet sie doch ihren eigenen Ton. Maßgeblich verantwortlich dafür ist Hauptdarsteller Christoph Maria Herbst. Es wäre fast schon eine Untertreibung, ihn nur das Gesicht der Serie zu nennen. Herbst ist (gefühlt) in jedem Bild, er ist Tilo, und Tilo ist die Serie. Selbst die formale Darbietung, das Auflösen von Raum und Zeit, gehört ein Stück weit zu seiner chaotischen, hibbeligen Wesensart. Und Herbst zeigt, was er als Schauspieler wie kaum ein anderer beherrscht: das gespielte Missverstehen von Situationen, das Fahrige, das Unkonzentrierte oder das Schwer-von-Begriffsein (und das auf eine beiläufige, komisch-realistische Art und Weise), dann ist seine Figur wieder intellektuell auf der Höhe und sie gefällt sich darin, um zwei, drei Ecken herumzudenken. Und seine Neurosenkavaliere neigen immer gern dazu, sich um Kopf und Kragen zu reden. Man kann die Serie als ein Solo des Schauspielers begreifen, reduziert auf das Wesentliche (beispielsweise die Stimme der zweiten Hauptfigur). Mag sein, dass die Serie aus der Corona-Not geboren ist, wenn dem so ist, dann haben die Kreativen daraus eine echte Tugend gemacht. Und Herbst ist natürlich nicht alles: Christina Große ist wunderbar in den gemeinsamen Szenen, in denen das Schönste zwischen den Worten passiert. Ein Höhepunkt in der sonst häufig so sprunghaften, ruhelosen Handlung ist eine zweieinhalbminütige Einstellung in einer Hollywoodschaukel, in der sich die Kamera ganz langsam dieser sehr intimen Situation nähert. Richtig gut machen sich auch Hannah Schiller („Tatort – Parasomnia“) und Mirco Kreibich als Janas achtsamer Esoterik-Freund, der lange leiden muss unter dem ichbezogenen Blick der Hauptfigur … Fazit: eine Serie, die die Narration aufsprengt in viele liebe-, reiz- und lustvolle Details, ohne dabei das Große und Ganze aus dem Blick zu verlieren. Das Universum ist versöhnt.
Wie sich das Erzählte und die Erzählweise konsequent durchdringen
Einige Szenenschnipsel werden immer wieder neu in andere Kontexte montiert. Auch Sätze werden wiederholt, was in gewisser Weise dem Refrain in einem Musikstück ähnelt. Das gibt der filmischen Textur einen speziellen Rhythmus. Daraus ergeben sich aber auch neue Sinnzusammenhänge. Die Serie stellt das Leben als einen Erfahrungsfluss dar. Die Situationen der Gegenwart speisen sich aus der Vergangenheit. Nichts ist vergessen. Wer von humanistischen Idealen erzählt, dem steht etwas Erkenntnistheorie auf der Erzählebene gut zu Gesicht.