Vermutlich trauern sie bei Sat 1 noch heute jenen Jahren nach, als der Sender zwischen 2010 und 2014 mit „Der letzte Bulle“ und „Danni Lowinski“ die originellsten Serien im Programm hatte und mit tollen Quoten und vielen Preisen belohnt wurde. „Think Big!“ wird diese Zeit nicht zurückbringen, doch die zehn horizontal erzählten, aber in sich abgeschlossenen Folgen wecken jedenfalls die Erinnerung: Die Hauptfigur, Nicole Pütz, könnte Dannis kleine Schwester sein. Zumindest ist sie von gleichem Schlag, wenn auch stärker auf die Spitze getrieben: Während „Danni Lowinski“ Dramedy war, also ernste Themen heiter behandelte, ist „Think Big!“ Comedy pur. Ähnlich wie ihr „Vorbild“ will Nicole (Hanna Plaß), aufgewachsen im Brennpunkt Köln-Chorweiler, ihre soziale Determinierung durchbrechen. Und da der Titel Programm ist, denkt sie in größeren Maßstäben: Wo andere vom Nagelstudio träumen, will sie gemeinsam mit Freundin Ebru (Yasemin Cetinkaya) „was richtig Geiles“ auf die Beine stellen gleich eine ganze Kette gründen. Als ihr ein Banker angesichts des handschriftlichen „Businessplans“ klarmacht, dass er sie ohne BWL-Abschluss gar nicht ernst nimmt, beginnt sie kurzerhand ein Studium. Für das notwendige Abizeugnis sorgt ein befreundeter Fälscher; und dann geht die Geschichte erst richtig los.
Foto: Sat 1 / Frank Dicks
Die Behauptung, selten seien in einer Serie zwei derart unvereinbare Welten aufeinander getroffen, wäre natürlich nicht angemessen. In „Sankt Maik“ (RTL, 2018/19) zum Beispiel schlüpft ein Taschendieb in die Rolle eines Kleinstadtpfarrers, und die Titelfigur aus „Jenny – echt gerecht“ (RTL, 2018/19), eine knallbunt gekleidete Anwaltsgehilfin mit großem Herz und großer Klappe, war dank Birte Hanusrichter aus ganz ähnlichem Holz geschnitzt wie Nicole Pütz. „Think Big!“ lebt ebenfalls in ganz erheblichem Maß vom Temperament der Hauptdarstellerin: Hanna Plaß zieht zwar viele Comedy-Register und lässt gern ihre großen blauen Augen kullern, übertreibt es aber nicht. Die Inszenierung artet ohnehin nur selten in Klamauk aus, selbst wenn Nicoles Familienmitglieder gemeinsam mit Freundin Ebru (eine Kopie der Rolle von Cosima Henman in der RTL-Serie „Der Lehrer“) alle möglichen Klischees des Brennpunktmilieus in sich vereinigen: Mutter Silvia (Milena Dreissig) ist in ihrem Kleidungsstil nie über die Teenagerjahre hinausgekommen, die durchtriebene kleine Schwester Tiffany (Vivien Sczesny) klaut alles, was nicht niet- und nagelfest ist, und Bruder Dennis (Anselm Bresgott) ist angeblich Azubi, taugt aber allenfalls zum Blödmanngehilfen.
Mitunter wirkt die familiäre Ebene allerdings, als hätten Sat 1, die Produktionsfirma oder Serienschöpfer und Produzent Frederik Hunschede der Grundidee allein nicht getraut, weshalb viele Folgen die beiden Ebenen parallel erzählen: hier Nicoles Konfrontationskurs an der Uni, wo sie sich regelmäßig gegen die nicht ganz unberechtigten Vorurteile eines humorlosen Dozenten (Holger Stockhaus) oder des arroganten Kommilitonen Alex (Nicolas Wolf) wehren muss, dort die Familie, die das Online-Konto einer irrtümlich für tot gehaltenen Nachbarin räubert oder ein vermeintliches Flüchtlingsmädchen als Gratisputzfrau missbraucht und das dann auch noch frech Integration nennt. Das ist zwar ganz lustig, aber oft laufen diese beiden Stränge unverknüpft nebeneinander her. Deutlich gehaltvoller und auch darstellerisch anspruchsvoller als die Familienszene sind Nicoles Erlebnisse an der Uni, was nicht zuletzt am Alien-Effekt liegt: weil sie den Hochschulbetrieb als Außenseiterin mit ganz anderen Augen sieht. Mitunter ist der entlarvende Ansatz etwas simpel, wenn sie beispielsweise den Unterschied zwischen Wissenschaft und Plagiat lernt (von vielen abschreiben ist okay, von einem abschreiben ist Betrug), aber entscheidend ist die Entwicklung der Figur: Anfangs ist Nicole jedes Mittel recht, weshalb sie keine Skrupel hat, die verzweifelt nach einer Freundin suchende Kommilitonin Johanna (Annina Euling) nach Strich und Faden auszubeuten, aber dann kommen ihr zunehmend Skrupel, zumal sie erkennt: Es ist viel befriedigender, ein Ziel auf ehrlichem Weg zu erreichen.
Foto: Sat 1 / Frank Dicks
Das klingt schlicht, aber Hunschede und die Koautoren verpacken die Botschaft unterhaltsam. Außerdem sorgt Hanna Plaß dafür, dass „Think Big!“ in erster Linie amüsant ist. Auf den ersten Blick mag es riskant wirken, diese Rolle einer kaum bekannten Schauspielerin anzuvertrauen, aber sie hat schon als Filmtochter von Michael Fitz in den „Hattinger“-Krimis (ZDF) und in dem Drama „Hirngespinster“ (ARD) bleibende Eindrücke hinterlassen. Gerade zu Beginn trägt sie Nicoles ohnehin überflüssige Off-Kommentare etwas zu markig vor, aber davon abgesehen wäre Nicole Pütz in der großen Zeit der Comedyserie vor gut 20 Jahren eine Durchbruchrolle gewesen. Neben den Wortgefechten mit Alex und dem Professor schärft auch die Arbeit des Kostümbilds (Andreas Janczyk) das Profil der Figur: Natürlich kommt Nicole gar nicht erst auf die Idee, sich anzupassen, weshalb sie im Hörsaal zum Paradiesvogel wird. Mitunter zeigt sie auf sehr, sehr hohen Absätzen auch mal mehr als nur ihre langen Beine; trotzdem wirkt ihre Kleidung nicht geschmacklos. Selbst wenn der blasierte Kommilitone sie mal mit der Bemerkung „RTL2 ist auch da“ begrüßt: Sie trägt kein Stigma „Unterschicht“.
Das gilt bei aller sozialer Inkompatibilität auch für die Familie, deren Sprachgebrauch ein bürgerliches Publikum trotz gelegentlicher Verstöße gegen die politische Korrektheit nicht erschrecken wird. ARD oder ZDF würden „Think Big!“ in dieser Form vermutlich trotzdem nicht ausstrahlen, aber bei Neo wäre die Serie durchaus vorstellbar. Für ihre Qualität steht nicht zuletzt ITV-Geschäftsführerin Christiane Ruff: Die für ihre Arbeit 2003 mit dem Grimme-Preis geehrte Produzentin von „Nikola“ und „Ritas Welt“ hat diese Art Fernsehen hierzulande vor über 20 Jahren quasi erfunden. Sat 1 zeigt die Serie freitags in Doppelfolgen.