Ein Kind ist im fränkischen Bamberg verschwunden. Die Eltern, die derzeit getrennt leben, geben sich gegenseitig die Schuld. Hat die Mutter (Linda Pöppel) den Jungen tatsächlich im Haus des Vaters abgegeben oder wieder mitgenommen, wie der Vater (Andreas Pietschmann) behauptet? Oder hat sich der fünfjährige Mike in den Wald geschlichen, wie er es schon öfter getan hat, wenn sich seine Eltern gestritten haben? Vielleicht hat er aber auch mal wieder am Waldrand gespielt, dort, wo Rolf Glawogger (Sylvester Groth) wohnt? Als Felix Voss (Fabian Hinrichs) dem Mann, ein Lehrer, der unlängst freigestellt ist, weil er sich an zwei seiner Schüler „vergriffen“ haben soll, einen Besuch abstattet, ist die Kollegin bereits vor Ort: Glawogger ist die neue große Liebe von Paula Ringelhahn (Dagmar Manzel). Was die Kommissare noch nicht wissen: Auch ein Jugendlicher aus der Nachbarschaft, der seltsam verwirrte Titus (Simon Frühwirth), kennt Mike gut, ja, er hat ihm offenbar immer wieder geholfen, wenn es bei dem Kleinen zuhause Zoff gab. Doch der junge Mann, der gelegentlich von psychotischen Schüben heimgesucht wird, hat momentan selbst genug mit sich selbst, seiner Freundin Coco (Michelle Barthel), seiner Mutter (Bettina Hoppe) und einem Psychiater (Tilo Nest) zu tun. Schließlich macht Kommissarin Ringelhahn eine grausige Entdeckung…
Foto: BR / Hendrik Heiden
„Wo ist Mike?“, der neunte Franken-„Tatort“, ist ein Film, der sich den Kategorien einer vordergründigen Krimi-Kritik (spannend? realistisch? logisch plausibel? gut gespielt? etc.) entzieht. Es ist mehr Drama als Krimi, mehr Tragödie als Whodunit. Es ist kein Film, den man sofort in sein Herz schließt. Die Figuren sind keine Charaktere, die auf Anhieb als Abbilder der Wirklichkeit durchgehen. Ob die Verdächtigen oder die Ermittler, alle agieren in diesem Film fast wie in einem abstrakten Raum, in dem sich Werte und Haltungen, in dem sich Seelenpein, psychische Krankheiten und soziales Kaputtsein spiegeln. Und Dagmar Manzel, Sylvester Groth, Fabian Hinrichs, alle drei bühnenerfahren, spielen mitunter wie vor einer schwarzen Wand. Dieser Film macht es dem Zuschauer nicht leicht. Er strengt an. Er tut weh. Er kann einen wütend machen, weil man als Betrachter den Zorn einiger unangenehmer Figuren auf diese überträgt. Und der Film ist pessimistisch, vermittelt ein düsteres Weltbild. Dafür aber hat er zwei Kommissare, die Mut machen. „Die beiden haben gemeinsam eine Menge dunkler Räume und menschlicher Abgründe durchstiegen“, sagt Redakteurin Stephanie Heckner im Presseheft. Für den Film von Andreas Kleinert gilt dies im besonderen Maße. Es lässt sich aber auch eine Menschenfreundlichkeit festzustellen, die bei aller Schwärze der Geschichte aus Voss & Ringelhahn spricht. „Egoismus und Neurosen haben in diesem Team keinen Platz“, so Heckner. Das ist richtig, eine ähnliche Geradeaus-Chemie gibt es beim „Tatort“ sonst nur noch im Schwarzwald. Die Hoffnung auf eine bessere Welt lebt also weiter.
Foto: BR / Hendrik Heiden
Und so sind es auch in „Wo ist Mike?“ die Kommissare, über die man Zugang zum Film und diesem Verkettung-tragischer-Umstände-Plot finden kann. Sie weisen am Ende einen Weg aus der Dunkelheit. Und auch wenn nach neunzig Filmminuten hier jede Figur diesen Weg allein gehen muss, so geben deren souveräne Weitsicht, deren Bereitschaft, verstehen zu wollen, und diese große Sensibilität, die beide besitzen, eben jene berechtigte Hoffnung auf eine bessere Welt. Diese Philantropie zieht sich durch alle Szenen. Das ist der Kitsch- und Sozialromantik-freie Gegenentwurf zu der Welt, die uns dieser „Tatort“ erzählt. Eltern, die ihr Kind vergessen. Schüler, die gedankenlos mobben. Ein Ehepaar, das sich selbst noch vor den Blicken der Kommissare an die Gurgel geht. Der jähzornige Mann, der gern mal zuschlägt, und die Frau, die sich damit abfindet („Es passiert halt“). Eine andere Mutter, die die Beziehung zu ihrem psychisch kranken Sohn missbraucht, ja, sich blindlings in eine Art von freundschaftlicher Ko-Abhängigkeit begibt. Erfreulicherweise erzählt Drehbuchautor Thomas Wendrich („Mitten in Deutschland: NSU. Die Täter – Heute ist nicht alle Tage“, „Ich und Kaminski“) seine Geschichte der kleinen und größeren Verwerfungen nicht als ein Drama von simplen Kausalitäten. „Die Ursache ist hier nicht gleichzeitig der Auslöser für das Verschwinden des Kindes“, so der Autor. Alles trägt seinen Teil zur Tragödie bei. Irgendwie. Bevor Wendrich & Kleinert nach zu einfachen Antworten suchen, verzichten sie lieber auf zu klare Antworten.
Foto: BR / Hendrik Heiden
Filmästhetisch ist dieser BR-„Tatort“ ganz großes (Depri-)Kino. Gleich zu Beginn schälen sich aus den in blaustichiges Schwarz getauchten Nachtbildern rätselhafte Handlungsfetzen um den merkwürdigen Titus und seine nicht minder merkwürdige Freundin heraus. Ruhelos wie die Figuren bewegt sich auch später gelegentlich die Handkamera von Michael Hammon – ein Bildgestalter, der oft für Andreas Dresens Filme der unverfälschten Realität auf der Spur war und als Regisseur einen Grimme-Preis (Wheels and Deals“) gewann. Der Schnitt ist schnell und dynamisch, wenn Handlungsstränge miteinander verbunden werden. Wenn hingegen die Charaktere und Schauspieler im Fokus stehen, dann nimmt sich Kleinert Zeit und Raum, und Hammon rückt ihnen auf die Pelle. Trotzdem wirken diese Szenen nie kammerspielhaft, dafür sind sie zu raffiniert aufgelöst. Schatten, scharfe Hell-Dunkel-Kontraste, ein Szenenbild, das die schwarzen Löcher, in die die Helden zu fallen drohen, versinnbildlicht. Ein Haus, von außen wie ein schwarzer Sarg, der innen mit grauem Beton ausgeschlagen ist. Und dann, ein Höhepunkt des Films, eine nächtliche Kellerszene, bei der Vieles im Dunkeln bleibt, wodurch sich im Kopf des Zuschauers umso mehr abspielt: Das Licht flackert bedrohlich wie in einem Horrorfilm, ein starrer Blick ohne Gegenschuss, dann das Blaulicht der Polizeifahrzeuge, der Ton ist weggemischt. Gestörte Wahrnehmung. Eine vierminütige Sequenz, ein surrealer Alptraum. Fazit: „Wo ist Mike?“ ist ein elaboriert erzählter Schauspielerfilm, der mit tiefschwarzen Bilderwelten verführt und gerade deshalb nicht leicht auszuhalten ist. Ein schwerblütiges Drama, das alle Beziehungen scheitern lässt, aber die menschenfreundlichen Kommissare unverzagt weiter ihren Weg gehen lässt.