Den LKA-Ermittler Felix Murot holt die Vergangenheit gleich mehrfach ein. Der Mord an einem Sensationsreporter, den einige gerne zum Selbstmord machen würden, konfrontiert den ehemaligen BKA-Mann mit seinem Scheitern im Fall um einen politischen Mord an einem Manager in den 1980er Jahren. Die dritte Generation der RAF schlug damals noch einmal zu. Weil Murot bei der Ermittlung die falschen Fragen stellte, wurde er abgezogen – und landete beim LKA. Der tote Journalist könnte einer politischen Geschichte aus jenen Jahren auf der Spur gewesen sein. Murot, den der Fall in seine alte Heimat am Edersee verschlägt, ist sich dessen ziemlich sicher. „Willkommen zuhause – nur nicht durchdrehen“, redet er sich selbst gut zu. Das aber ist schwer – trifft er doch in einer Pension am See auf eine Frau, die ihn an seine Jugendliebe erinnert. Oder sind das alles nur Hirngespinste? Auf seinem Weg in die Vergangenheit begleitet ihn die Aussicht auf eine bittere Zukunft: Felix Murot hat einen Tumor im Kopf, haselnussgroß – „gleich neben der Erinnerung, Tendenz Richtung visuelle Wahrnehmung“, bemerkt er cool. Murot hat Schmerzen, Aussetzer, doch er nimmt den Eindringling an, nennt ihn liebevoll Lilly, wie seine erste Liebe und beginnt mit ihm zu reden.
Eine ungewöhnliche Farbe bringt Ulrich Tukur in die „Tatort“-Landschaft. Herbstliche Nebelschwaden ziehen zu Beginn durchs Bild. Das berühmte Fadenkreuz – gleich in den ersten Minuten ist es auf den neuen Ermittler gerichtet. Und bedrohlich geht es weiter – und in die Röhre. Wenig Grund zur Euphorie. Der Diagnose folgt erst einmal die Verdrängung. „Arbeit ist die beste Medizin“, weiß die emotional robuste LKA-Mitarbeiterin Magda Wächter, deren Direktheit und derber Humor ihr Chef besonders an ihr schätzt. „Sie sprechen wie ein echter Kerl, Wächter!“, zollt er ihr später Anerkennung. Auch diese Wächter (immer eine sichere Bank: Barbara Philipp) ist mal eine ganz andere Farbe unter den Ermittlungsgehilfen.
Und wie oft gibt es einen „Tatort“, bei dem Bilder und Situationen über den Tag hinaus in Erinnerung bleiben? Gleich der erste Versuch, in den Fall einzusteigen, scheitert: da überbringt der LKA-Beamte der Ehefrau die Nachricht vom Tod des Mannes – worauf ihm gellendes Gelächter entgegenschallt und der für Tod Erklärte plötzlich im Türrahmen steht. Auch das Bild im Gefängnis brennt sich ein: Murot im versuchten Gespräch mit einem RAF-Häftling, das sind zwei Welten, Kommunikation unmöglich! Ganz anders dagegen der magische „Tanz“ zwischen dem Ermittler und der Wirtin. Diese Momente zwischen Ulrich Tukur und Martina Gedeck sind wunderbar – sie sind in der Lage, die Sensibilität des Zuschauers zu beflügeln, mit ihrer unglaublichen Zärtlichkeit. Solche Szenen sind der Resonanzboden für die harten Fakten eines Politthrillers, der parallel zur Krimiermittlung beinahe unmerklich abläuft. Das ist das Starke an diesem Film: dass keiner lauten Verschwörungstheorie das Wort geredet wird, sondern die (Ge-)Schichten der Vergangenheit nach & nach offen gelegt werden. Angenehm auch, dass keine kalte Technologie bemüht wird. Hier wird analog gemordet, mit präzisen Dialogen gearbeitet und der Soundtrack weht einige Schellack-Schätzchen ins Jahr 2010.
Dass die Aufarbeitung der RAF-Geschichte und die vielfältige Moral-Diskussion, die es in ernsthafter Form bislang nur ins Kino gebracht hat („Die innere Sicherheit“, „Schattenwelt“, „Es kommt der Tag“), Thema im „Tatort“ wird, muss man mutig nennen. Aber warum eigentlich?! Wenn sich schon die Fernsehfilme an diese politischen Generationenkonflikte nicht mehr heranwagen, dann sollten die Krimi-Reihen sie stärker ins Visier nehmen. Die Stasi-Seilschaften erleben ja auch immer mal wieder ihre Krimi-Renaissance zur Prime-Time.
Die Anfangsbilder erweisen sich als falsche Fährte: in „Wie einst Lilly“ wabert nichts – weder ästhetisch noch verschwörungstheoretisch! Man muss auch nicht ständig den DVD-Player zurückfahren, Autor Christian Jeltsch verzichtet aber auch auf platte Verbal-Erklärungen. Immer wieder gibt es Szenen, die aus der Tradition des Thrillers kommen, die dem Zuschauer nicht erklärt werden. „Wollen Sie Erlösung?“, haucht da der ehemalige BKA-Vize einer RAF-Leidtragenden ins Ohr. Der Zuschauer wird weder für dumm verkauft noch für dumm gehalten, aber sein Aufnahmevermögen wird auch nicht über Gebühr strapaziert. Erzählökonomie ist überall zu spüren. Szenen, die Raum brauchen, bekommen ihn, Szenen, die Informationen liefern, werden verknappt, um genug Zeit für die Reaktionen auf die neuen Umstände zu haben. Dass bei dieser Maßvorlage von Jeltsch Regisseur Achim von Borries („Was nützt die Liebe in Gedanken“) dieses Politkrimi-Drama nicht verstolpert – versteht sich von selbst. Atmosphäre erzeugen und über Stimmungen erzählen, gehört zum guten Ton des Qualitätskrimis. Die Verwebung von Bild-Atmosphäre mit den Tiefenschichten der Figuren und ihrer Darsteller ist in diesem „Tatort“-Einstand aber ganz besonders gut gelungen. Die exklusive Gast-Besetzung mit Gedeck, Haberlandt, Brambach und Glowna hat sich gelohnt.