Die erfolgreichste deutsche Krimi-Reihe befindet sich derzeit im Experimentierstadium – inszenatorisch und dramaturgisch, besetzungspolitisch und programmtechnisch. Jetzt gibt es erstmals eine „Tatort“-Doppelfolge mit einer Ermittlerin, gesendet an zwei aufeinanderfolgenden Sonntagen. Beide Teile stehen (auch) für sich allein, doch erst zusammen ergeben sie eine gelungene und durchweg spannende Format-Erweiterung. Stefan Dähnert hat das Buch geschrieben, Franziska Meletzky den Zweiteiler inszeniert. Und die starken Bilder kommen von Eeva Fleig: besonders beeindruckend die Szene, in der Lindholm suchend zwischen am Boden verteilten Beweismitteln wie auf einem Dame-Spielfeld hin- und herspaziert und die Kamera sie dabei aus der Vogelperspektive beobachtet. Gewalt wird in diesem Krimi um die brisanten Themen Zwangsprostitution und Korruption nicht vorgeführt, aber das Grauen ist in den entscheidenden Szenen zu spüren, ohne dass sie reißerisch wären.
Foto: NDR / Gordon Muehle
Der Fund einer Leiche in einer Hannoveraner Müllverbrennungsanlage ruft Charlotte Lindholm auf den Plan. Eine 16jährige, mutmaßliche Prostituierte wurde einfach weggeworfen. Kurze Zeit später wird ein weiteres Mädchen (Emilia Schüle) aufgegriffen, das der Polizei entscheidend weiterhilft. Sie wurde ebenfalls im Müll abgelegt, konnte sich befreien und überlebte. Verzweifelt berichtet die junge Weißrussin, dass die Tote ihre Cousine sei, und beide zusammen mit acht weiteren Mädchen einen Modelwettbewerb gewonnen hätten. Der Gewinn war eine Reise nach Hannover, die sich für die Mädchen zu einem Alptraum entwickeln sollte, denn sie wurden als willfähriges Spielzeug zu einem Herrenabend der feinen Hannoveraner Gesellschaft benutzt. Die Kommissarin gerät bei den Ermittlungen an Uwe Koschnik (vortrefflich: Robert Gallinowski), Chef einer Rockergang. Die kontrolliert das Rotlichtmilieu und hat mächtige Freunde in der Landeshauptstadt, darunter Hajo Kaiser (stark: Bernhard Schir), Gallionsfigur der dubiosen Kaiser Immobilen Optimierer AG.
Kommissarin Lindholm ist – wie in den bisher 19 Folgen – wieder emotional, engagiert, ehrgeizig. Und dennoch wirkt sie – sowohl durch den Fall als auch ihr Privatleben – ein Stück verletzlicher und verwundbarer als sonst. Die Figur kommt nicht gar so heldenhaft rüber wie in manch zurückliegendem Fall, durch den sie mit einer „Nur noch kurz die Welt retten“-Attitüde stolzierte. Und das tut richtig gut. Einzig ihr Kind stört auch in den neuen Folgen weiter, wirkt wie ein Fremdkörper, der krampfhaft eingebunden werden muss.
Foto: NDR / Gordon Muehle
Zweimal 90 Minuten für einen „Tatort“ – das bietet einen längeren Erzähl-Atem, Autor Dähnert und Regisseurin Meletzky nutzen ihn. Da wird nicht nur schnell das Thema Zwangsprostitution durchgehechelt, man nimmt sich Zeit, hat auch mehr Raum für die Figuren und die politische Dimension ist nicht nur ein spekulativer Aufhänger. Aktuell ist dieser „Tatort“ auch, die Diskussion über den Skandal um den Partyabend der Ergo-Versicherung in Budapest ist ja noch nicht verklungen. „Mich interessiert der Wert von Weiblichkeit in unserer Gesellschaft“, sagt Maria Furtwängler, die die Idee zu dieser Doppelfolge lieferte, die sich mit Extremformen männlichen Macht- und Allmacht-Gehabes auseinandersetzt. Und die parallel erzählte private Geschichte der Kommissarin hat nicht nur Alibi-Funktion, sie ist eingebunden und wird zunehmend mit der Krimi-Handlung verwoben. So gewinnt die Anziehung zwischen Lindholm und Jan Liebermann an Tiefe und Dramatik.
Auch der Übergang zwischen den beiden Folgen stimmt. Es gibt keine umständlichen, nervigen Rückblenden, kein traditionelles „Was bisher geschah“-Summary. Man kann auch, ohne „Wegwerfmädchen“ gesehen zu haben, problemlos in „Das goldene Band“ einsteigen; die Vorgeschichte aus Teil 1 wird scheibchenweise nachgereicht. Der kluge Kniff von Autor Stefan Dähnert: Mit Carla Prinz (Alessija Lause) steigt eine zusätzliche Ermittlerin in den Fall ein, die von Lindholm über die zurückliegenden Ereignisse informiert wird… Fazit: Obwohl das Thema nicht neu ist – ist dieser Doppel-“Tatort“ ein gelungenes, durchweg spannendes Experiment, das der Kommissarin aus Hannover eine (Entwicklungs-)Chance für die Zukunft bietet. Denn die Figur der zweiten Ermittlerin tut Lindholm gut. Das wäre eine prima Gelegenheit, ihr in künftigen Folgen eine (feste) berufliche Partnerin an die Seite zu stellen.