Tatort – Was bleibt

Möhring, Weisz, Koffler, Malton, Marija Erceg, Max Zähle. Niemals geht man so ganz

Foto: NDR / Georges Pauly
Foto Thomas Gehringer

Die von Max Zähle packend inszenierte „Tatort“-Episode „Was bleibt“ (NDR / Nordfilm) besitzt doppelte Qualität: Zum einen als kluges Drama um Herkunft, Flucht und Identität. Zum anderen als emotionaler Abschied: In 13 Filmen spielte Franziska Weisz die Kommissarin Julia Grosz an der Seite von Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring). Vor ihrem Abgang zeigt sich Grosz zugänglicher als bisher und überrascht außerdem mit Gesangsqualitäten. Drehbuch-Autorin Marija Erceg hat prägnante Figuren und eine Geschichte geschaffen, die ebenso wie viele Bilder (Kamera: Frank Küpper) in Erinnerung bleiben werden.

Razzia im Hamburger Kiez: Mit einer vier Minuten langen Sequenz ohne Schnitt legt der „Tatort“ an Neujahr einen mitreißenden Start hin. Die Kamera folgt dabei konsequent einer Figur: Denis Demorovic (Malik Blumenthal) hat gerade viel Geld in einem Hinterzimmer an einen zwielichtigen Typen gezahlt, um bald einen neuen Pass zu erhalten. Doch im nächsten Augenblick stürmt eine SEK-Einheit in die Imbissbude und nimmt auch den Pass-Dealer fest. Immerhin kann Demorovic selbst entkommen. Dabei läuft er Kommissar Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) über den Weg, an den er sich wegen eines dramatischen Ereignisses in seiner Jugend in Hamburg-Billstedt erinnert. Im Jahr 2002 war ein Brandanschlag auf ein Jugendzentrum verübt worden, in dem sich der junge Polizist Falke ehrenamtlich engagierte. Ein Jugendlicher starb, Demorovic wurde schwer verletzt. Falkes Versprechen, den Täter zu fassen, konnte die Polizei nicht einlösen. Dass Falke nach 20 Jahren noch dieselbe Handy-Nummer hat und Demorovic diese Nummer immer noch kennt, ist erstaunlich. Jedenfalls bittet Demorovic Falke um Hilfe, ohne seine Identität beim Treffen im nächtlichen Skaterpark zu lüften. Der Kommissar erinnert sich nicht und steht etwas ratlos vor dem aufgebrachten und verzweifelten Mann. Erst nachdem Demorovic‘ Leiche aus dem Hafen gefischt wird, erkennt Falke im Zuge der Ermittlungen die Verbindung zu seiner eigenen Person.

Tatort – Was bleibtFoto: NDR / Georges Pauly
Denis (Malik Blumenthal) bittet seinen Bruder Oliver (Hanno Koffler) um Hilfe. Aufmacher-Foto: Rolle „auserzählt“? Na ja, nach 13 Filmen verlässt Franziska Weisz jedenfalls den „Tatort“ und die Zuschauer:innen sowie Thorsten Falke werden ihre Julia Grosz vermissen. Zum Schluss darf sie noch in guter alter NDR-„Tatort“-Tradition singen.

Eine derart fesselnde Einführung hat auch im „Tatort“ Seltenheitswert, zumal ein überraschender Gesangsauftritt von Franziska Weisz für weitere besondere Momente sorgt. Die Polizei feiert in einer vollen Kneipe den gelungenen Einsatz – und Falkes 25. Dienst-Jubiläum. Seine Kollegin Julia Grosz ehrt den aufrechten Kiez-Bullen mit einer kurzen Ansprache („Du siehst immer noch erst den Menschen und dann die Taten“) und rockt die Kneipe gemeinsam mit einer kleinen Band und dem Song „Seven Nation Army“ von The White Stripes. Nach einer knappen Stunde ist Weisz dann noch mit einer leisen Nummer zu hören. Und Chris Isaaks „Wicked Game“ wird in der Coverversion von James Vincent McMorrow am Ende noch zu einer Art Abschiedslied. Der Score von Florian Tessloff wurde überdies von der NDR Radiophilharmonie eingespielt. Die eigenen Orchester einzubinden, ist eine Möglichkeit, die öffentlich-rechtliche Sender noch häufiger nutzen sollten.

Nach dreizehn Filmen ist jedenfalls Schluss mit Weisz als Falkes Kollegin, im September 2023 hatte der NDR das Aus verkündet – mit der etwas überraschenden Begründung, die Figur der Julia Grosz sei auserzählt. Weisz deutete in einem Interview später Ähnliches an. Kurioser Weise gönnt man der einst traumatisiert von einem Auslandseinsatz heimgekehrten Julia Grosz zum Abschied geradezu einen Entwicklungsschub – was ja wohl das Gegenteil von „auserzählt“ bedeutet: Die Kommissarin wirkt aufgeschlossener und zugänglicher als bisher, blüht als Sängerin auf der Bühne geradezu auf, wagt einen Neuanfang auch im Beruf. Grosz hat sich beim BKA beworben, fürchtet die Reaktion Falkes und ist doch etwas enttäuscht, dass der geschätzte Kollege den bevorstehenden Abschied derart ungerührt zur Kenntnis nimmt. In „Was bleibt“ ist die Nähe und Verbundenheit zwischen beiden so groß wie nie – sicher auch um die emotionale Fallhöhe am Ende zu steigern.

Tatort – Was bleibtFoto: NDR / Georges Pauly
Was verbergen Björn Timmig (Gerhard Garbers) und seine Frau Katharina (Leslie Malton)?

Aber noch in anderer Hinsicht ist der Film ein beachtliches „Tatort“-Debüt der in Kroatien geborenen und in Hannover aufgewachsenen Marija Erceg („Der Usedom-Krimi“, „Ostfriesenfeuer“). Sie erfüllt den Auftrag eines besonderen Abschiedsfilms für Weisz/Grosz und erzählt gleichzeitig eine starke (und leider mal wieder besonders aktuelle) Geschichte über Migration und Identität. Denis Demorovic bedroht vor seinem Tod Björn Timmig (Gerhard Garbers) und seinen Sohn Oliver (Hanno Koffler), die in dessen Schuld zu stehen scheinen. Dass Björn Timmig und seine Frau Katharina (Leslie Malton) ebenfalls im Jahr 2002 einen Flüchtlings-Hilfeverein gründeten, unterstreicht die naheliegende Vermutung, dass Oliver derjenige gewesen sein könnte, der den Anschlag auf das Billstedter Jugendzentrum verübt hatte. Mittlerweile reibt sich die erschöpfte Katharina („Ich kann das Wort Hilfe nicht mehr hören“) in der ehrenamtlichen Arbeit auf, während aus ihrem in der Jugend mutmaßlich rechtsextremen Sohn ein solider Familienvater geworden ist, der mit seiner Frau Jasmina (Janina Elkin) und den beiden Kindern in einer kleinbürgerlichen Siedlung wohnt und in der Tischlerei seines Nachbarn und Freundes Martin (Mathis Reinhardt) arbeitet.

Das Auftauchen von Denis Demorovic, dessen Familie zwischenzeitlich nach Bosnien zurückkehren musste, weil deren Duldung abgelaufen war, wühlte die Timmigs auf. Oliver liegt ein Geständnis auf der Zunge, doch Jasmina fürchtet um die Existenz ihrer Familie. Während der temporeiche Start einen klassischen Großstadt-Thriller erwarten lässt, überzeugt die Episode vielmehr als intelligentes Familien-Drama auf überschaubarem Spielfeld. Ohne den Clou vorzeitig preiszugeben, werden die Figuren und Konflikte spannend und immer ein bisschen rätselhaft entwickelt. So gelingt tatsächlich eine verblüffende Wendung mit einer nachdenklich stimmenden Botschaft. Und das hoch emotionale Finale, in dem Falke zu spät kommt, weil er doch wieder alles seiner Arbeit unterordnet, setzt noch einen drauf. Regisseur Max Zähle, der 2011 für den Kurzfilm „Raju“ einen Studenten-Oscar gewann und seine Vielseitigkeit mit der Heimatkomödie „Schrotten“, dem Liebesdrama „Bist Du glücklich?“ und der Fantasy-Serie „Der Greif“ bewiesen hat, kostet das dramatische und emotionale Potenzial der Handlung bis zum letzten, grobkörnig-gelben Bild in einer Hamburger Regennacht richtig aus. Doch, da bleibt was. (Text-Stand: 9.12.2023)

Tatort – Was bleibtFoto: NDR / Georges Pauly
Tauschen ein letztes Mal diese Blicke aus. Julia Grosz (Franziska Weisz) versteht Falke (Wotan Wilke Möhring). „Tatort – Was bleibt“

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Reihe

NDR

Mit Wotan Wilke Möhring, Franziska Weisz, Hanno Koffler, Gerhard Garbers, Leslie Malton, Janina Elkin, Malik Blumenthal, Mathis Reinhardt

Kamera: Frank Küpper

Szenenbild: Thomas Freudenthal

Kostüm: Susanne Roggendorf

Schnitt: Thomas Stange

Musik: Florian Tessloff

Redaktion: Donald Kraemer

Drehbuch: Marija Erceg

Regie: Max Zähle

EA: 01.01.2024 20:15 Uhr | ARD

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