Dieser „Tatort“ ist etwas Besonderes. Das liegt nicht am brisant-aktuellen Thema, sondern einem Kurzauftritt, der eine starken Bezug zu der ARD-Krimireihe hat. Der Mann, der 1970 die Titel- und damit die Erkennungsmelodie zum „Tatort“ geschrieben und auch eingespielt hat, ist nach mehr als 1000 Folgen erstmals selbst in einer Episode zu sehen: Klaus Doldinger. Er mimt einen Straßenmusiker, der am Eingang eines Fußgängertunnels steht und Saxophon spielt. Die Kommissare gehen an ihm vorbei, Schenk sagt: „War das nicht?“ und „Nein, das kann nicht sein“. Zu hören ist eine Jazzversion der „Tatort“-Melodie. Ein netter Gag in dem sonst düsteren und harten „Tatort – Wacht am Rhein“, der einen Beitrag zur Diskussion über Migration, Ängste, Vorurteile und Integration in unserem Land leisten will.
Viel Bewegung zum Einstieg: Dealer, Hobby-Sheriffs, Zeugen, ein Überfall, Schüsse, am Ende liegt ein Toter am Boden einer Zoohandlung. Und der setzt eine Kettenreaktion in Gang. In einem Kölner Stadtviertel, das mit großen sozialen Problemen zu kämpfen hat, liegen die Nerven blank. Bürger haben sich zusammengeschlossen zu einer Wehr namens „Wacht am Rhein“ und patrouillieren nachts auf den Straßen. Auch Ladenbesitzer Adil Faras (Asad Schwarz) und die junge Mutter Nina Schmitz (Nadja Bobyleva) gehören dazu. Sie werden auf Streife Zeugen eines Überfalls auf eine Zoohandlung. Den begeht ein junger Mann im Kapuzenpullover. Er bedroht den Inhaber mit einer Waffe, eine Steckdose fällt in eines der Aquarien, Stromausfall. Bürgerwehranführer Gottschalk (Sylvester Groth) und der Sohn des Inhabers eilen zu Hilfe. Dann fallen Schüsse. Der Täter flieht, der junge Mann ist tot. Die Kommissare Ballauf und Schenk nehmen die Ermittlungen auf. Dringend tatverdächtig ist der gebürtige Nordafrikaner Khalid Hamidi (Samy Abdel Fattah). Das weiß Adil nicht, als er sich in der aufgeheizten Stimmung den jungen Studenten Baz Barek (Omar El-Saeidi) schnappt, den er wegen des Kapuzenpullis für den Täter hält. Er sperrt ihn in den Keller seines Ladens.
Ganz schön viel reingepackt in diesen „Tatort“ hat Jürgen Werner, der schon siebzehn Episoden der Krimi-Reihe für die Dortmunder und auch die Kölner Kommissare geschrieben hat. Vieles, was derzeit nicht nur in Köln, sondern in der ganzen Republik diskutiert wird, hat er in den Fall reingepackt: mangelndes Vertrauen in die Polizei und die Justiz, Ängste und Vorurteile gegenüber Nordafrikanern nach der Silvesternacht in Köln, fehlendes Rechtsbewusstsein bei manchen Migranten, aufgestauter Hass, Gewalt auf beiden Seiten.
Regisseur Sebastian Ko über allgemeine die Stimmungslage:
„Wir stehen momentan auf wankendem Boden. Sicher ist nur eines: die Angst. Die Anschläge in Paris, die Silvesternacht 2015 in Köln, die Attentate in Nizza, Brüssel, Berlin, flüchtende Menschen in Richtung Europa, der so genannte IS, die Überforderung der Polizei, eine stetig steigende Einbruchsrate. All das wird in einen Topf geworfen, durchgerührt, kräftig gewürzt mit Irrationalem und Vorurteilen, mit Halbwissen und Halbverstandenem. Wer diese giftige Suppe isst, dessen Herz wird vergiftet. Die ‚Wacht am Rhein’ erzählt davon. Zwar wird hier nur ein Stadtviertel kontaminiert – aber dieses Stadtviertel könnte überall sein.“
„Wahnsinn wie sich die Welt verändert“, lässt Autor Werner die junge Nina sagen. Ein Satz, der für die gegenwärtige gesellschaftliche Lage steht. Viele Menschen kommen nicht mehr mit den Veränderungen zurecht, sind orientierungslos und rennen denen hinterher, die ihnen schnelle Lösungen versprechen. Das greift der „Tatort – Wacht am Rhein“ auf. Fast alle Figuren sind Opfer oder glauben, Opfer zu sein, einige leiten daraus ihre Gewaltbereitschaft ab. Sie fühlen sich bedroht und bedrohen deshalb selbst. Da ist der Zoohandlungsbesitzer, bei dem erst vor einigen Monaten in der Wohnung eingebrochen wurde und jetzt der Überfall aufs Geschäft stattfand; seine Frau, die am Tod ihres Jungen zu zerbrechen droht; der vermeintliche Täter, der in der Hierarchie der Drogendealer am unteren Ende der Befehlskette steht; der Student, der entführt und eines Verbrechens beschuldigt wird, das er nicht begangen hat; der nordafrikanische Ladenbesitzer, der durch das Fehlverhalten junger Landsleute um seine gesellschaftliche Anerkennung im Viertel fürchtet. Was macht die aktuelle gesellschaftliche Diskussion mit Menschen? Das steht im Zentrum dieses Krimis. Hilflosigkeit führt zu Radikalität und es schlägt auch die Stunde von Bauernfängern wie dem Ex-Objektschützer Gottschalk (beeindruckend hart & gefühlskalt gespielt: Sylvester Groth).
Nach dem sehenswerten Kölner „Tatort – Kartenhaus“ ist der „Tatort – Wacht am Rhein“ die zweite Zusammenarbeit des Autors Jürgen Werner mit dem Regisseur Sebastian Ko. Der findet in seiner frischen, sehr originellen Inszenierung das richtige Tempo und die passenden Bilder, die packende Geschichte umzusetzen. Man taucht ein in dieses Kölner Viertel, die Atmosphäre der Bedrohung und Angst wird spür- und nachvollziehbar. Exemplarisch für die exzellente Kameraarbeit (Kay Gauditz) sind die Szenen im Keller, in dem der falsche Täter gefangen gehalten wird. Geht es dahin, gleitet die Kamera wie eine Schlange durch den Lüftungsschacht und taucht ein in dieses Kellerverlies. Und noch eine enorm starke und originell gefilmte Szene: Wenn die Kommissare am Tatort noch einmal den Ablauf nachstellen, dabei fast stumm agieren und die Positionen ständig wechseln, dann nutzt Regisseur Ko viele Spielmöglichkeiten und der Fall bekommt eine neue Wendung.
Der Köln-“Tatort widmet sich wieder einmal sehr engagiert einer aktuellen gesellschaftlichen Diskussion. Nur an einigen wenigen Stellen wollen die Macher zuviel. Die Szene, in der die Bürgerwehr einen Farbigen verfolgt und bedrängt, der ebenfalls farbige Kommissar Reisser (Patrick Abozen) dies mitbekommt, dazwischen gehen will und dann von der Bürgerwehr drangsaliert wird – die hätte man sich sparen können. Für den Verlauf der Geschichte ist sie nicht wichtig, dramaturgisch nicht vonnöten. Da wollte man wohl unbedingt noch einen zusätzlichen Aspekt einbauen. Manchmal genügt auch nur ein Blick, so zum Beispiel auf ein großes Werbeplakat mit der Aufschrift „Wir leben Integration“. Ein Satz, der sich gut liest, aber nur sehr mühsam mit Leben zu fühlen ist, wie der „Tatort – Wacht am Rhein“ eindrucksvoll zeigt. Der entpuppt sich am Ende als echte Tragödie. Es gibt beinahe nur noch Verlierer & Traumatisierte. Ein Krimi, der einen mitnimmt – im doppelten Sinn des Wortes.