Bei der Silvesterparty 2017/18 im Hause des Schauspielerehepaars Seitz ging es mal wieder heiß her. Der Alkohol floss in Strömen, man beleidigte sich, man demütigte sich, die feine Gesellschaft verlor ihre Hemmschwellen – und am Ende lag ein Mann tot im Pool. Jener Thore Bärwald (Max Hopp), ein zynischer Theaterstar, hatte Sex mit der 16jährigen Tochter des Hauses (Sarah Buchholzer). Danach geriet dieser mit Moritz Seitz (Thomas Heinze) aneinander: Bärwald springt daraufhin in den Pool, eine Whiskeyflasche fliegt hinterher, ein Scheinwerfer fällt ins Wasser. Das war sein letzter Auftritt. Der Fall ist klar. Seitz wandert in den Knast. Doch vier Jahre später gesteht Ole Stark (Martin Feifel), ein trinkender Ex-Kollege und alter „Freund“ der beiden, die Tat. Und wieder ist der Fall klar. Stark fährt ein, während Seitz heimkehrt in seine Villa. Carolin Seitz (Nina Kronjäger) zeigt sich anfangs wenig begeistert, denn sie ist gar nicht gut auf ihren Gatten zu sprechen: Ihre Karriere konnte sie nach dessen Verurteilung vergessen. Ohne den neuen Mann an ihrer Seite hätte sie die vier Jahre nicht durchgestanden. Ihr Retter, der mit ihr auch das Bett teilt, ist ausgerechnet jener Polizist (Florian Anderer), der in der verhängnisvollen Nacht den Ruhestörungsbeschwerden des Nachbarn (Manfred Böll) nachgehen musste. Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Schenk (Dietmar Bär) können das Ganze nicht fassen, fühlen sich ausgetrickst – und ermitteln weiter.
Foto: WDR / Thomas Kost
Ein außergewöhnlicher Fall bedarf einer außergewöhnlichen Form. In dem „Tatort – Vier Jahre“ verschwimmen zu Beginn die Zeitebenen, das Kausalitätsprinzip wird ausgehebelt, und die juristische Seite des Falls spielt eine entscheidende Rolle. Drehbuchautor Wolfgang Stauch (10x „Tatort“ / 5x „Polizeiruf 110“) spricht von der Idee, die Exposition wie einen Traum erscheinen zu lassen, allerdings ohne dass der Zuschauer dabei die Orientierung verlieren solle. Der Plan geht auf. Vom rauschenden Fest geht es in den Gerichtssaal und zurück, man hört die Urteilsverkündung, man sieht Seitz‘ entsetzten Blick – und den zerknitterten Ex-Schauspieler, der seine Kunst offensichtlich noch nicht verlernt hat, wie er vor den Kommissaren sein Geständnis ablegt. Nach dreieinhalb Minuten ist der Rahmen abgesteckt. Danach wird die Geschichte verfeinert – mit Indizien, möglichen Beweggründen, mit Aussagen und Sätzen, die in jener Nacht und in den beiden Verhandlungen gefallen sind. Da hört man Seitz „Hau ab in dein Zimmer, du Nutte“ zu seiner Tochter sagen, oder es fällt der entscheidende Satz: „Wir gehen jetzt mal tauchen Thorwald, und es würde mich wundern, wenn du danach noch mal auftauchst.“ Alles, was einen normalen Ermittlungskrimi ausmacht – Tatortbegehung, Befragungen, Überführung – findet sich auch in diesem „Tatort“, nur eben anders erzählt oder an der nicht üblichen Stelle platziert. Der Fall ist komplexer als andere. Der Zuschauer bekommt etwas mehr zu tun. Wer das mag, der kann – auch wenn der Film nach zwanzig Minuten sein dramaturgisches Traumprinzip aufgibt – deutlich mehr Glücks-Gefühle in diesen 90 Filmminuten erleben als an einem durchschnittlichen Sonntagabend.
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Der Spaß erschöpft sich bei diesem dekonstruierten „Tatort“ aus Köln allerdings nicht nur im Durchdringen der Erzählstruktur und der Lust an dem wilden Ritt durch die (Wahrnehmungs-) Ebenen, auch das, was hier über das bunte Völkchen erzählt wird, besitzt einen hohen Unterhaltungswert: diese narzisstische Selbstdarstellung mit oder ohne Alkohol, der deutliche Hang zum Melodram („Schäm dich, fahr zur Hölle und bleib da“) und dem Wunsch, Sätze für die Ewigkeit zu sagen. Spätestens da merkt man, dass auch Schauspieler (manchmal) Menschen sind. Geht es ihnen schlecht oder haben sie kein Publikum, lässt der Hang zum großen Auftritt deutlich nach. Dagegen spielt der abgehalfterte Ex-Schauspieler bei den Verhören und vor Gericht offenbar die Rolle seines Lebens. Dass er für Geld ins Gefängnis gegangen ist, liegt auf der Hand, allein es fehlen Ballauf und Schenk die Beweise. Eine Klasse für sich ist – neben der Strukturierung der Zeitachse in der Montage – auch die Inszenierung des Raumes. Regisseur Torsten C. Fischer („Romy“) hat mit seinen Gewerken (allen voran Kameramann Holly Fink und Szenenbildner Eduard Krajeweski) eindrucksvolle Bilder gefunden. Die meisten Räume sind flüchtig, werden kaum als solche wahrgenommen, wirken wie Bild gewordene Zwischen-Räume. Ein einziger Schauplatz schiebt sich in den Vordergrund: die Villa mit Terrasse und Garten. Das Zentrum davon wiederum ist der Pool. Und der ist zugleich auch Zentrum der Geschichte – als narratives Stimmungsbarometer und sinnliche Projektionsfläche der Charaktere. Einst Metapher für den Erfolg, steht er bald nur noch für Mord und Totschlag, bevor Seitz ihn nach seiner Haftentlassung wieder zu neuem Leben erweckt. Im Spiegel des Pools wirbt er nun auch wieder um seine niedergeschlagene Ehefrau. Der Pool wird sich – gemäß dem Traumprinzip dieses Krimis – einbrennen im Gedächtnis der Zuschauer*innen, vielleicht sogar über die Handlung hinaus.
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„Vier Jahre“ erzählt eine Geschichte aus der Welt der Schauspieler. „Was ist bei Euch Schauspielern eigentlich echt? Lachst Du, wenn Du lachst? Heulst Du, wenn Du heulst?“, will der freundliche Polizist von Seitz wissen. „Bei mir ist alles echt“, erwidert der Schauspieler mit ernsthafter Miene. Das ist nicht der einzige gelogene Satz im Film. „Du siehst gut aus“, begrüßt Seitz seine Frau. Sie weiß, wie Schauspieler und insbesondere ihr Mann ticken: „Fang nicht gleich mit einer Lüge an“, antwortet sie kühl. Die Sache mit dem Lügen ist natürlich typisch für Krimis; aber hier sind Profis am Werk. Das Ermitteln der Wahrheit wird dadurch nicht leichter. Das weiß auch Schenk: „Wenn’s einer von denen war, dann spielt er jetzt tot. Aber die können das. Die machen das beruflich.“ Das Spiel-Motiv bleibt im Rahmen des Genres. Das Wesen der Schauspieler-Schauspieler sorgt für eine größere Ambiguität der Interaktionen im Film, die ja in der Regel der Kern kriminalistischer Ermittlungen in Fernsehkrimis sind. Und dann hilft Stauch noch mit Sätzen nach, die andere verdächtig machen würden. „Wenn Du sie nur anfasst, schieb ich dir ein Messer zwischen die Rippen“, kontert die betrunkene Carolin Seitz das offensichtliche Interesse Bärwalds an ihrer minderjährigen Tochter. Darf man solche Drohungen bei einer Schauspielerin ernst nehmen?
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Der Autor und der Regisseur lösen den Kriminalfall also nicht auf im Lichte der Selbstreferentialität. Das Spiel im Spiel verselbständigt sich nicht wie in einigen Murot-Grotesken oder im „Tatort – Meta“. Die Macher überlassenen es dem Zuschauer, was sie aus diesem Film über die Krimihandlung hinaus an filmästhetischer Reflexion mitnehmen. Wer will kann das Spiel im Spiel goutieren, kann sich an der Differenz der Dramaturgie erfreuen, kann staunen darüber, was aus zwei „Tatort“-Oldies rauszuholen ist, wenn sie sich nicht wie ein altes Ehepaar durch den Film bewegen und dabei alle Figurenmuster bedienen (was in München klappt geht auch in Köln). Dieser „Tatort“ kann einem auch bewusst machen, was Film ist und was ein Fernsehfilm sein kann. Dass ein „Tatort“ aus Köln auch mal mit den Konventionen brechen kann. Dass auch ein TV-Krimi aus mehr besteht als aus Handlung, Spannung und Thema. Ein Film lässt sich auch als ein sinnlich-sinnhaftes Zeichensystem verstehen. Dieser „Tatort“ ist ein filmisch und dramaturgisch aufregendes Gedankenspiel, das man nicht an der Realität messen sollte. Besonders einer juristischen Überprüfung dürfte die Geschichte kaum standhalten. Dem Wesen dieses Films entspricht ein offener Blick. Das gilt auch für das Ende. Und da ist wieder der Pool, und es liegt wieder was drin‘: ein Telefon und ein Plattenspieler. Es ist auskommuniziert, die Party ist vorbei. (Text-Stand: 10.1.2022)