Lockere Atmosphäre bei der Weihnachtsfeier eines Versicherers: Kim Tramell (Ursina Lardi) versucht sich auf der Bühne als Karaoke-Sängerin, Oliver Jansen (Oliver Wnuk), der Chef des Unternehmens, mixt persönlich an der Bar Getränke. Beide flirten miteinander, kommen sich näher, fahren spät am Abend allein hoch in die Chef-Etage. Tramell lässt sich auf einen „kleinen Gute-Nacht-Kuss“ ein, dem dann doch noch einige Küsse mehr folgen. Was anschließend geschieht, zeigt ein Video, das die Polizei rekonstruieren kann. Es wurde heimlich von Idris Demir (Ulas Kilic) gedreht, der die beiden beobachtet haben muss, ehe er von der Balustrade im Inneren des Gebäudes in den Tod stürzte – oder gestürzt wurde? Demir war, wie ein Arbeitskollege aussagt, angeblich scharf auf die attraktive Kim Tramell, „wie der halbe Laden“. Beide konkurrierten um einen freien Posten im Unternehmen, gleichzeitig waren sie befreundet. Für ihre Tochter (Ruby M. Lichtenberg) ist er wie ein Ersatzvater.
Foto: SWR / Benoît Linder
Die Schweizer Schauspielerin Ursina Lardi (zuletzt: „Meeresleuchten“, „Im Netz der Camorra“) ist eine Top-Besetzung für die vielschichtige weibliche Hauptfigur, die sich einer oberflächlichen Charakterisierung entzieht. Kim Tramell ist eine alleinerziehende Mutter, erfolgreich, selbstbewusst und klug. Als Versicherungs-Aktuarin befasst sie sich mit der mathematischen Modellierung von Risiken. Privat war sie zuletzt mit einer jüngeren Frau liiert, mit Sammy Berger (Sarah Masuch). Aber nicht nur mit ihrem Chef flirtete sie, auch zwischen ihr und Kommissar Lannert knistert es. Kim Tramell ist sich ihrer erotischen Ausstrahlung bewusst. Aber wer in ihr nur das Stereotyp von der ehrgeizigen, zu allem bereiten Karriere-Frau zu erkennen glaubt, ist schon dem cleveren Drehbuch aufgesessen.
Rudi Gaul und Katharina Adler legen anfangs einige Köder aus, die das Klischeebild bestärken könnten: Zum Beispiel wenn Kim Tramell vor dem Einsteigen in ihr Auto die Schuhe auszieht, was Kommissar Lannert offenbar mit einigem Vergnügen beobachtet. Nicht nur in dieser Szene geht es um den männlichen Blick, aber eigentlich ist dieser „Tatort“ eine Einladung an alle Zuschauer:innen, die eigenen Sinne zu schärfen, die eigenen Vorurteile zu überprüfen und die eigene Urteilskraft bei der Betrachtung von scheinbar eindeutigen Bildern in Frage zu stellen. Als die Polizei ein Handy-Video des Opfers wiederherstellen kann und damit Kim Tramell im Verhör konfrontiert, erklärt sie plötzlich: „Er hat mich gezwungen.“ Die stummen Video-Ausschnitte zeigen keine offene Gewalt, Lannert und Bootz waren von einvernehmlichem Sex zwischen der Frau und ihrem Chef Oliver Jansen ausgegangen. Aber stimmt das auch? Sehen wir nur, was wir sehen wollen? Was zeigen die Bilder wirklich?
Foto: SWR / Benoît Linder
Immer wieder setzt Autor-Regisseur Rudi Gaul die Videosequenzen ein, zwingt das Publikum, auf jedes Detail zu achten. Außerdem arbeiten er und Stefan Sommer (Kamera) mit verschiedenen Bild-Techniken, die einen puren Realismus unterlaufen: Spiegelungen, Überblendungen und auch die Visualisierung der unterschiedlichen Theorien, wie der Abend der Weihnachtsfeier geendet haben könnte. Drehbuch und Inszenierung sind dicht, bleiben auf der Spur der Ermittler, die sich nicht einig sind, was zusätzliche Spannung erzeugt. Lannert glaubt nach einem Besuch bei Tramell, dass sie die Vorwürfe gegen Jansen erfunden habe. Denn sie habe es ihm gegenüber „darauf angelegt“. Also könne sie zwei Tage vorher nicht vergewaltigt worden sein. Dagegen kapiert Bootz, der sich zuvor gegenüber der jungen Auszubildenden Stefanie Seiler (Amelie Herres) eher wie ein Macho verhalten hatte, dass es in diesem Fall einen weiblichen Blick braucht. Schön böse auch diese Finte: Nicht die möglicherweise vergewaltigte Frau, sondern die Männer sind es, die auf den ersten Blick mehr zu leiden haben. Lannert zwickt’s im Rücken, und der getrennt von seiner Frau lebende Bootz hat schlechte Laune, weil seine Tochter nur noch wenig Interesse an Kontakten zum Vater hat.
Und natürlich sieht sich auch der anfangs charmante Oliver Jansen nun als Opfer. Ein Vergewaltigungsvorwurf sei „die effektivste Form, einen fertig zu machen“, schimpft der Familienvater bei der Polizei. Oliver Wnuk, sonst gerne in komischen Rollen oder als Sympathieträger zu sehen, darf hier mal eine weniger angenehme Figur geben. Stark auch Karoline Bär in der wichtigen Nebenrolle als seine Frau Cleo, eine Anwältin, die trotz des Vergewaltigungsvorwurfs ihrem Mann beisteht. Nicht erst seit der #MeToo-Debatte gehört es sich, dass Fernsehfilme mit dem Thema sexueller Missbrauch sensibel umgehen. Die „Tatort“-Episode „Videobeweis“ greift Vorurteile und Stereotypen auf, vermeidet bei der Zeichnung der Figuren ein simples Gut-Böse-Schema, verharmlost aber nichts – im Gegenteil. Zugleich erzählen Rudi Gaul („Das Hotelzimmer“) und Katharina Adler einen spannenden Kriminalfall, der bis zuletzt zu fesseln vermag. (Text-Stand: 10.12.2021)
Foto: SWR / Benoît Linder