Der Anfang einer Geschichte hat die Aufgabe, die Aufmerksamkeit des Publikums sofort zu wecken. Dabei ist es zuletzt deutlich in Mode gekommen, mit einer Szene mitten aus der Handlung zu beginnen, dann die Geschichte rückblickend zu erzählen und sie ab dem Moment dann weiterzudrehen. So startet auch der „Tatort – Verschwörung“ mittendrin im Leben einer Hauptfigur. Genauer gesagt einer der beiden zentralen Figuren der erfolgreichen Krimi-Reihe. Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) marschiert im hitzegeplagten Wien schnurstracks aufs Arbeitsamt, das heute sprachlich modernisiert meist Arbeitsagentur heißt. Er zieht eine Nummer, der Schweiß steht ihm auf der Stirn. Dann ist er an der Reihe, sitzt der Dame gegenüber, die in seine Unterlagen schaut und die Frage stellt: „Gekündigt nach 35 Jahren bei der Polizei, was haben sie denn gemacht?“ Eisner antwortet knapp und trocken: „Meinen Job“.
Schon geht es eine Woche zurück, die eigentliche Story beginnt mit Psycho-Touch. Bibi Fellner (Adele Neuhauser) joggt durch den Wald, begegnet einem Referatsleiter im Innenministerium. Die Kamera folgt dem athletischen Mann, der schnell unterwegs ist und sich von einem großen Hund mit fletschenden Zähnen verfolgt fühlt. Er rennt in den Wald, hält sich an einem Baum fest, der löst sich auf, der Boden unter ihm öffnet sich. Halluzination Day für den Musterathleten. Kurz darauf ist er tot, einen Abhang hinuntergestürzt in einer Sandgrube. Einige Zeit später beugen sich Moritz und Bibi über die Leiche, Bibi erkennt ihn („im Wald war der noch pumperlgesund“) und gibt das Motto des Krimis vor: „Weisst eh, was da los ist, wenn der nicht von selber runtergefallen ist“. Moritz stimmt ein: „Das wird lustig“.
Foto: ARD Degeto / ORF
Eisner ist gerade erst aus Holland zurückgekehrt, wo er in wenigen Tagen ein lang ersehntes Projekt bei Europol und der EU-Antikorruptionsbehörde OLAF in Den Haag leiten soll. Bibi hat er drei Kilo als Geschenk mitgebracht. Gouda, versteht sich. Gerichtsmediziner Kreindl (Günter Franzmeier) schafft Tatsachen: Das Opfer namens Wagner starb an einem Herzinfarkt, hatte Ephedrin im Blut, so könnte es sich um Doping handeln. Die Wien-Cops suchen die Witwe (Lilly Epply) auf, den Sportarzt Dr. Rädler (Fabian Schiffkorn) , der kurz darauf bei der Witwe rumlungert, und Wagners arroganten Nachbarn und ehemaligen Kollegen im Innenministerium, Dr. Leytner (Matthias Franz Stein), Vorsitzender des Vereins Sichere Zukunft, der jede Menge Einfluss hat. Den macht der geltend, „Ernstl“ Rauter (Hubert Kramar), der steife Vorgesetzte von Bibi und Moritz, erklärt den Fall für gelöst. Als Moritz nicht locker lässt, geht erst die Bewerbung für Europol flöten, dann wird er strafversetzt an einen Schreibtisch in Mödling, wo die Cold Case Evaluierungskommission ihren Sitz hat, und schließlich wird er gekündigt. Doch Bibi und er lassen nicht locker, Verdächtige gibt es genug: Witwe, Nachbar, Arzt, Bürgermeister und auch der Gärtner. Dann gibt es eine zweite Leiche.
Der Titel verrät bereits, was einen im neuen Wien-„Tatort“ erwartet: eine „Verschwörung“. Dabei erwartet uns – so lehrt die Filmgeschichte – ein Kampf gegen scheinbar übermächtige Gegner. Und den bestreiten mit Harald Krassnitzer (der 51. Fall) und Adele Neubauer (26. Einsatz) zwei alte Hasen. Buch und Regie hingegen liegen in den Händen zweier Kreativer, die in diesem Format Neuland betreten: Autor ist Ivo Schneider („Die Mutprobe“, „Landkrimi – Kreuz des Südens“) und Claudia Jüptner-Jonstorff („SOKO – Stuttgart und Kitzbühel“, „Rentnercops“) hat den Krimi in Szene gesetzt. Vollgepackt hat Schneider die Story mit Motiven und Plotpoints. Nachbarschaftsstreit, Doping, Seilschaften, Lobbyismus, Abhängigkeiten, Grundstücksmauscheleien, Wohnungsbauskandal, Spielsucht, sozialer Absturz – da ist viel drin. Zu viel. Viele (falsche) Fährten werden angedeutet, aber nicht weitererzählt, zum Finale hin zaubert man dann noch jemanden aus dem Hut… Regisseurin Jüptner-Jonstorff hat das stilsicher und mit zahlreichen gelungenen Motiven inszeniert. Ein besonderes Lob gebührt dem Location Scout Hubert Rinnhofer. Die beiden schmucken, aber so seelenlosen Villen der seelenlosen Freunde & Kontrahenten (nicht nur beim Marathonlauf) Wagner und Leytner mitten in unberührter Natur sind ein echter Hingucker für die Lebenswelt, in die uns der „Tatort – Verschwörung“ entführt. Man beachte das stets sichtbare kleine Sackgassenzeichen, wenn sich die Kamera auf die beiden Protz-Anwesen zubewegt.
Der neue Fall der Wiener Ermittler zeigt, dass dem ORF-„Tatort“ in den letzten Filmen ein wenig die Leichtigkeit abhanden gekommen ist. Düstere und harte Fälle kennt man im Austria-Ableger, aber oft wurden sie durch zahlreiche Schmunzel-Elemente und pointierte Dialoge aufgelockert. Es gab Figuren wie den legendären Inkasso-Heinzi oder den wunderbaren Assistenten Fredo. Sie fehlen. Und mit ihnen die besondere Note. Klar, auch dieses Mal gibt es ein paar witzige Passagen – etwa wenn Bibi und Moritz spontan bei ihren Ermittlungen ein altes Ehepaar mimen. Oder wenn der Gerichtsmediziner im Angesicht der Leiche Kant und Sokrates zitiert. Aber weder die neue Assistentin Meret Schande (Christina Scherrer) noch die weiteren Charaktere in „Verschwörung“ – vielleicht ansatzweise den arroganten Dr. Leytner mal ausgenommen – haben das Zeug zum Schmäh. Und noch etwas schmälert den insgesamt guten Eindruck. Kommissarin in Gefahr ist für die Dramaturgie eines Krimis ein willkommenes Element, das hat man gerade erst im letzten Wien-„Tatort – Die Amme“ gesehen. Zweimal nacheinander spricht es aber nicht gerade für gutes Timing. Das haben die sonst so kreativen Wiener nun wirklich nicht nötig. (Text-Stand: 19.4.2021)
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