Einsamkeit liegt über Stadt. Cenk Batu mittendrin. Sein neuer Undercover-Einsatz dauert nun schon acht Wochen. In einer Hamburger Firma für neue Technologien werden geheime Konstruktionspläne verschoben. Er soll Beweise liefern und die Industriespione dingfest machen. Aus Kommissar Cenk Batu wurde deshalb Pressereferent Sinan Afra. Ausgerechnet ihm vertraut der Entwicklungsleiter der Firma. Er will ihn unbedingt zu seinem persönlichen Assistenten machen. Doch dazu kommt es nicht mehr. Ob jener Holger Lichtenhagen Selbstmord gemacht hat oder ermordet wurde, kann zunächst nicht zweifelsfrei festgestellt werden. Der neue Chef jedenfalls ist ein zwielichtiger Bursche – und er hat ein Problem mit Afra. Auch andere Mitarbeiter machen sich verdächtig. Bei der Beerdigung Lichtenhagens lernt Batu die uneheliche Tochter des Toten kennen – und bald auch lieben. Doch der VE bleibt Profi. Selbst als sie in Lebensgefahr gerät, gibt er seine Deckung nicht auf.
Der NDR geht weiterhin mit seinem neuen Hamburg-„Tatort“ ungewohnte Wege. Ein Undercover-Kommissar arbeitet anders als ein Vor-Ort-Ermittler oder Verhörspezialist. Batu ist viel allein. Daraus muss sich sich eine andere Erzählweise ergeben. In „Vergissmeinnicht“ wird die dramaturgische Herausforderung des VE-Settings intelligent gelöst: zum einen kommt beim Ermitteln in einer großen Firma der Außenkontakt nicht zu kurz, zum anderen bietet Batus plötzlich erwachtes Privatleben mehr Abwechslung und sagt mehr über den schwer zugänglichen Helden, als wenn er in seinem Appartement nur die eigenen vier Wände angähnt.
Foto: NDR / Georges Pauly
Ein solcher Krimi-Thriller verlangt von der Regie mehr als ein gemütlicher, routinierter Whodunit. „Spannung ohne Aufgeregtheit“, war das Ziel von Regisseur Richard Huber. Sie kommt zustande, indem der Grimme-Preisträger fast durchgängig das Geschehen aus der Perspektive Batus zeigt. Eine andere Vorgabe der Regie lautete: „größtmögliche Beiläufigkeit in der Erzählweise“. Für die Schauspieler hieß das: „Wir haben versucht, eine konsistente Spielweise zu finden, die das Ganze nicht stilisiert, sondern eher dokumentarisch wirken lässt.“ Nur selten hagelt es in diesem „Tatort“ die berühmten Fakten zum Fall. Es gibt keine laut vor sich hin denkenden Kommissare mit Sorgenfalten auf der Stirn, keine Gerichtsmediziner, die den Tathergang erklären, keinen Chef, dem die Öffentlichkeit im Nacken sitzt. Dieser Bruch mit den Konventionen des „Tatorts“ stellt andere Anforderungen auch an den Zuschauer: Er muss sich in Geduld üben. Er muss sich die Informationen selbst „er-sehen“. Huber: „Wir wollten nur zeigen, interpretieren soll der Zuschauer.“
Die Zeit, in denen kein Kollege die neuesten Ermittlungsergebnisse reinreicht, kann der Zuschauer für anderes nutzen: so kann er erkennen, wie vorbildlich Kameramann Martin Langer mit dem 16:9-Format arbeitet. Und wie er so eine einzigartige Großstadt-Stimmung in der Horizontalen vor den Augen des Zuschauers ausbreitet. Blicke gewinnen in „Vergissmeinnicht“ an Bedeutung. Jeder beäugt jeden. Fenster als Sehschlitze für den, der hinausschaut; Fenster als Muster einer Häuserfront für den, der von außen betrachtet. Man kann hineinsehen in die erleuchteten Wohnungen und Büroräume, man sieht, was dort vorgeht. Manchmal reicht Huber das normale Bild nicht – und er setzt auf Split-Screens. Wir sehen alles, allein in die Köpfe der Menschen können wir nicht sehen. Alle Menschen in diesem kühlen Szenario bleiben undurchschaubar, zweideutig.
Man muss sich einlassen wollen auf diesen Stil, ihn nicht vorschnell als formalistisch, kalt oder überästhetisiert abtun. „Vergissmeinnicht“ wärmt nicht von innen, ist kein Film fürs Lagerfeuer der Nation, dazu ist er zu perfekt, zu stilsicher und zu „realistisch“ (im Sinne der – nicht mehr ganz so – neuen Unübersichtlichkeit). Umso mehr wünscht man dem Film ein paar Millionen Zuschauer mehr als dem zweiten Cenk-Batu-„Tatort“. (Text-Stand: 28.3.2010)