Ein Fall, der bei Leonie Winkler (Cornelia Gröschel) alte Wunden aufreißt. Bei einer Verkehrskontrolle auf einer Landstraße wird ein Streifenpolizist erschossen und ein zweiter lebensgefährlich verletzt. Leonies Bruder kam vor Jahren ebenfalls im Dienst ums Leben. Dass er auf der gleichen Wache wie die beiden arbeitete und unter demselben Revierleiter, Jens Riebold (Andreas Lust), lässt wieder alte Verschwörungstheorien in ihr aufkeimen. Warum hat man einen Polizisten im zweiten Ausbildungsjahr ohne Schutzweste in eine lebensgefährliche Situation geschickt? Erhärtet wird ihr Verdacht durch die Umstände des aktuellen Falls. Denn der Täter ist offenbar der Mann (Max Mauff), mit dem sich Leonie treffen wollte, weil er ihr Informationen zum Tod des Bruders versprach. Während Gorniak (Karin Hanczewski) der Kollegin den Rücken stärkt, will Schnabel (Martin Brambach) nichts hören von Unregelmäßigkeiten bei der Polizei und auch nichts davon, dass bei einer unaufgeklärten Einbruchsserie Kollegen beteiligt sein könnten. Noch ungehaltener reagiert Leonies Vater (Uwe Preuss), ein Ex-Polizist alter Schule, auf die Vermutungen seiner Tochter. Vielleicht erhält sie ja mehr Unterstützung von den beiden Streifenpolizistinnen (Aybi Era & Paula Kroh), die mit am Tatort waren, allerdings beim Schusswechsel das Weite suchten.
Foto: MDR / Steffen Junghans
Krimis, in denen die Ermittler in ihre Fälle persönlich involviert sind, gehören in der Regel zu den besseren. In ihnen wird das Emotions- und Empathiepotenzial einer Geschichte gesteigert und das Bild vom routinierten, die immergleichen W-Fragen herunterbetenden Beamten modifiziert. Im Idealfall lassen sich Charakterbilder schärfen und sich möglicherweise sogar für die Zukunft psychologisch stimmigere Buchideen entwickeln (was selbst heute, in Zeiten horizontal erzählter Serien, leider viel zu selten passiert). Was diese positiven Effekte und Affekte angeht, macht der „Tatort – Unter Feuer“ keine Ausnahme. Leonie Winkler war zwar immer schon eine mit ihren Befindlichkeiten befasste Kommissarin, die auch immer mal für einen „jugendlichen“ Fehler gut war, doch ihr elfter Fall bietet ihr nun die Möglichkeit zur Emanzipation. Offener denn je bietet sie ihrem Vater Paroli, jenem von überkommenem Corpsgeist beseelten alten weißen Mann, der insgeheim Frauen bei der Polizei deplatziert findet. Da muss selbst der ewige Brüll-Hans Schnabel seine Kommissarin vor den Angriffen seines Freundes verteidigen („eine gute Polizistin“). Und im Schlussbild ist sie es dann, die im Garten ihres Elternhauses das Holz hackt. Und sie macht es mindestens so gut wie ihr Vater.
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Der „Tatort“ von Drehbuchautor Christoph Busche (Grimme-Preis für „Mitten in Deutschland: NSU – Die Ermittler“) und Regisseur Jano Ben Chaabane („Druck“, Grimme-Preis für „Kleo“) erzählt also auch von weiblicher Selbstermächtigung. Das aber eher im Vorbeigehen. Genauso wie der beiläufige Verweis auf Deutschlands marode Infrastruktur. Eine Polizeidienststelle wegen Wasserschadens „vorübergehend“ (mittlerweile zwei Jahre) in einer Kirche untergebracht, dürfte es in einem deutschen Krimi noch nicht gegeben haben. Das Ganze ist am Ende sehr viel mehr als nur ein visuell reizvoller Gimmick in einem Krimi, in dem das Herbstgrau dominiert und selbst Innenszenen schon mal seltsam vernebelt wirken können. Auch von der Decke des Sakralbaus tropft es gelegentlich. Das Wasser-Motiv zieht sich durch den gesamten Film. Gleich zu Beginn setzt am Tatort Regen ein; das sieht gut aus, verwischt aber vor allem die Spuren des zu Fuß flüchtenden Täters. Erst retrospektiv erkennt man so richtig, wie sorgfältig das Drehbuch geschrieben und wie dicht die Narration ist. Jede Figur, insbesondere die beiden Polizistinnen, deren unprofessionelle Flucht vom Tatort im Übrigen nicht als „typisch weiblich“ stehenbleibt, hat eine Funktion für die Krimihandlung, bekommt aber auch individuelle Merkmale, um so noch etwas zum Mann-vs-Frau-Subtext beizusteuern. Und die Hauptfigur, Leonie Winkler, entwickelt sich über ihre persönliche „Betroffenheit“ zur moralischen Instanz. Das passt zur (Jugend der) Figur, zu ihrer Familiengeschichte, zum Konflikt, ist aber auch etwas anstrengend.
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Diese Drama-Schwere gleicht der Krimi mit einigen dramaturgisch gut motivierten Wendungen aus. Der Täter, kein Mörder im klassischen Sinne, wird offen geführt (bevor der Film im Schlussdrittel zum Whodunit mutiert). Einer der drei parallelen Erzählstränge nimmt dessen Fährte auf. Der Höhepunkt ist eine ähnlich „Unklare Lage“ wie der Schusswechsel zu Beginn: Ein Heckenschütze versucht, dem Zugriff der Polizei zuvorzukommen und Schnabels und Gorniaks Zielobjekt selbst aufs Korn zu nehmen. Solche spannenden, aktionsreichen Szenen sind der Kontrast zu Winklers konzentrierten Solo-Ermittlungen, die allerdings stets reizvoll sind, da nicht x-beliebige Personen routinemäßig befragt werden, sondern alles Figuren, die von Anfang an etwas mit dem Fall zu tun haben. Insofern ist die Eingangsszene mit ihrem Prinzip der gedehnten Stille vor dem Schuss so etwas wie eine Blaupause für die Dramaturgie des gesamten Films. Immer wieder wechseln lange Drama-Ruhepassagen mit Action-Momenten. Kurz & knallig ist auch das Finale dieses sehr ansehnlichen Polizeifilms, dessen tiefe Melancholie sich stimmungsvoll in die Bilder einschreibt. Die in Rückblenden erzählten Erinnerungen an den Bruder sind schwarzweiß, aber auch die Gegenwart kommt gefühlt ohne Farbe aus. Die Lebensfreude ist rausgewaschen aus dem Film. Da passt es, dass Gorniak am Ende Schnabels überraschende Einladung zum Essen ausschlägt.
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