Eine Sandlerin – so nennt man in Österreich Obdachlose – tippelt grummelnd durch den U-Bahnhof. Eine Mutter mit ihrem Sohn ist unterwegs zu einer Einrichtung, die Menschen ohne Bleibe aufnimmt. Ein freakiges Pärchen, das auf der Straße lebt, kehrt in seine Behausung zurück. Der neue Wien-„Tatort – Unten“ führt in die Welt derer, die am Rande der Gesellschaft leben. Weil Indy (Michael Steinocher) und Tina (Maya Unger) an ihrem Schlafplatz auf einem verlassenen Industriegelände ihren obdachlosen Freund Gregor (Jonathan Fetka) leblos auffinden, sind Bibi Fellner (Adele Neuhauser) und Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) gefragt: Für die Kommissare geht es nach unten, nach ganz unten.
Zunächst sieht es nach einer Tat im Milieu aus: Ein Streit um Alkohol oder Geld ist eskaliert, am Schluss bleibt einer der Kontrahenten tot am Boden liegen. Doch am Tatort findet man eine große Menge Psychopharmaka und an der Kleidung des Toten Spuren von Crystal Meth. Hat er gedealt? Und warum hat der alkoholkranke Gregor, der Job, Frau und Wohnung verloren hat, jetzt den alternativen kritischen Online-Blog „Freigeist“ betreibt und sich als Investigativjournalist sieht, gerade erst Tina als Begünstigte seiner alten Lebensversicherung eingesetzt? Bibi fallen die Ermittlungen schwer, weil sie das Opfer kannte: „Er hat früher als Informant für mich gearbeitet, aber dann hat er die Geschichten immer mehr ausgeschmückt und irgendwann frei erfunden, da hab ich die Zusammenarbeit beendet“, gesteht sie Moritz, sagt ihm aber zunächst nicht, dass er bei ihr kürzlich wieder aufgetaucht ist.
Foto: ORF / Philipp Brozsek
Die Spur führt die Ermittler ins Heim „Lebensraum“, in dem Gregor lange gemeldet war. Indys Freundin Tina kommt hier immer wieder unter, aber auch für die obdachlose Johanna (Sabrina Reiter) und ihren Sohn Tobi (Finn Reiter) – die beiden aus der Anfangsszene – ist das Heim die Rettung. Heimchef Franz Zanger (Michael Pink) und die ärztliche Leiterin (Jutta Fastian) vermuten eine Drogengeschichte hinter der Tat. Doch dann verdichten sich die Hinweise, dass Gregor einer großen Sache auf der Spur war. Musste er deshalb sterben? Bei ihren Nachforschungen lernen die Wien-Cops Sackerl-Grete (Inge Maux) kennen, eine stark verwirrte alte Frau, die etwas beobachtet hat, der aber tragischerweise niemand richtig zuhört.
Der 25. gemeinsame Einsatz für Bibi Fellner (sie ermittelt im zehnten Jahr) und Moritz Eisner (der löst im nächsten „Tatort“ seinen 50. Fall!) bringt nicht nur einen spannenden, wenn auch sehr schwarzweiß gezeichneten Fall in zwei verschiedenen Welten – oben die skrupellosen Geschäftemacher, unten die Opfer –, sondern auch den Abschied vom lieb gewonnenen Sidekick des Ermittler-Duos. Thomas Stipsits, der seit 2012 als „Fredo“ Schimpf zu sehen ist, verlässt mit diesem Fall die Krimireihe nach 13 Einsätzen. Er wird fehlen, weil diese Figur stets wesentlich zu dem witzig-lockeren Tonfall im Wiener Tatort beigetragen hat.
Einer geht, zwei sind neu. Im „Tatort – Unten“ geben sowohl Regisseur Daniel Prochaska als auch die beiden Drehbuchautoren Thomas Christian Eichtinger und Samuel R. Schultschik ihr Debüt in der Vorzeige-Krimireihe. Prochaska, dessen Vater Andreas zu den renommiertesten Filmemachern Österreichs zählt (alle Episoden von „Spuren des Bösen“ mit Heino Ferch, „Das finstere Tal“), hat nach vielen Jahren als Cutter bei den Arbeiten des Vater im vergangenen Jahr die Stadtkomödie „Geschenkt“ und gerade erst den ORF-Landkrimi „Waidmannsdank“ gedreht und nimmt mit seinem ersten „Tatort“ einen steilen Aufstieg. Für das Buch zeichnen Eichtinger und Schultschik verantwortlich. Die haben bisher für die ORF-Comedy „Wischen ist Macht“ geschrieben und legen ihren ersten Krimi vor. Der vermeintliche 08/15-Fall im Obdachlosen-Milieu entpuppt sich nach einem weiteren Mord größer als gedacht. Die Autoren drehen am großen Rad, der besondere Pfiff fehlt allerdings.
Foto: ORF / Philipp Brozsek
Mit reichlich Sozialrealismus hat Daniel Prochaska den Krimi in Szene gesetzt. Er bemüht sich, die Welt ganz unten nicht stereotyp zu zeigen. Einzig die Figur der Sackerl-Grete, wunderbar gespielt von Inge Maux, ist ein wenig arg klischeebehaftet. Die nette Sandlerin, die von früher erzählt und ein großes Herz hat. Doch sie hat nur wenige Auftritte und ist so etwas wie der emotionale Zugang für die Kommissare zu dieser Welt. Der Austria-Krimi ist nicht spektakulär aber sehr stimmig besetzt. Was dieses Mal aber deutlich zu kurz kommt, sind die pointierten Wortgefechte der beiden Ermittler. Bei diesem ernsten Fall wohl aber die richtige Entscheidung. Ein bisschen Humor darf aber sein: Wenn Moritz Eisner im kalten Wien in seiner Wohnung eine defekte Heizung hat und vor sich hinbibbert, dann schafft das einerseits etwas Auflockerung und steht andererseits aber auch wieder für die Kälte des Themas dieses Krimis, der zwar nicht zu den herausragenden Fällen des Duos aus Wien zählt, aber recht gut funktioniert und spannende Unterhaltung zu bieten hat. (Text-Stand: 3.12.2020)