Weil er als Star von „Papas Kino“ galt, von den jungen Regisseuren verschmäht wurde und daher keine Rollen mehr bekam, begann Götz George in den frühen Siebzigern eine zweite Karriere im Fernsehen. Der Sender Freies Berlin engagierte ihn gleich zweimal als Bösewicht: In „Rattennest“, dem zweiten „Tatort“ des SFB, spielte er einen Möchtegern-Ganoven, der nach allen Regeln der Kunst zurechtgestutzt wird. Vier Jahre später, im vierten SFB-Beitrag zur Sonntagsreihe, war George erneut mit dabei, diesmal nicht als typischer Gangster mit vielen Muskeln und großen Allüren, sondern als Fluchthelfer Martin Poll. Hauptdarsteller von „Transit ins Jenseits“ (EA: Dezember 1976) ist jedoch Marius Müller-Westernhagen, der damals sowohl als Musiker wie auch als Schauspieler noch am Anfang seiner Karriere stand. Ein Jahr nach dem „Tatort“ folgte „Aufforderung zum Tanz“, sein erster Auftritt als Fernfahrer Theo; die Kinofortsetzung „Theo gegen den Rest der Welt“ machte ihn zum Star.
In dem „Tatort“ spielt Müller-Westernhagen Polls Komplizen, der den schwierigeren Part übernimmt: Erst sorgt Horst Bremer dafür, dass sich Kellnerin Erika (Gisela Dreyer) in ihn verliebt, dann erzählt er ihr eine rührselige Geschichte von seinem Bruder, der im Osten die hübsche Gisela kennen gelernt und sich mit ihr verlobt hat. Nun wollen die Brüder Gisela in den Westen holen. Dafür brauchen sie eine Frau, die ihr ähnlich sieht, damit die beiden auf der Transitstrecke zwischen Berlin und Westdeutschland die Rollen tauschen können. Als Aufwandsentschädigung gibt’s 5.000 Mark; exakt die Summe, die Erika ihrem Chef schuldet.
Wie schon in den ersten Krimis aus Berlin ist der ermittelnde Kommissar Schmidt (Martin Hirthe) zumindest anfangs nur eine Nebenfigur. In der ersten Hälfte des Films taucht er überhaupt nur einmal auf: als er bei Poll wegen eines ganz anderen Falls vorbeischaut. Dabei sieht er zufällig ein Foto von Erika; dieser vom Drehbuch sehr clever eingefädelte Moment ist das winzige Detail, das die Ermittler schließlich auf die Spur der beiden Fluchthelfer bringt. Zunächst jedoch erzählt Regisseur Günter Gräwert, der auch schon „Rattennest“ inszeniert hatte und diesmal auch am Drehbuch beteiligt war (Koautor: Jens-Peter Behrend), in aller Ausführlichkeit, wie Polls schöner Plan an der Realität zerschellt.
Der Film dauert 97 Minuten, und heutige Editoren hätten keinerlei Mühe, die überzähligen Minuten zu entfernen, weil Gräwert viele Szenen weiterlaufen lässt, obwohl sie im Grunde längst zu Ende sind. Für das Herzstück des Krimis, eine sehr ausführliche Sequenz, die den kompletten zweiten Akt bildet, gilt das nicht, denn hier hat das Dahinrinnen der Minuten Methode: Unangenehm authentisch vermittelt Gräwert die schikanös anmutenden Prozeduren an den Grenzübergängen zur DDR, die bei den Transitreisenden auch dann mulmige Gefühle hervorriefen, wenn man nichts zu verbergen hatte. Auf der DDR-Autobahn pflegte die Volkspolizei regelrecht darauf zu lauern, Westdeutsche bei einer Ordnungswidrigkeit zu ertappen; und Bremer hat ja noch viel mehr Grund, um „fickerig“ zu sein, wie er das ausdrückt. In einer nur leicht satirisch überhöhten Szene verpflichtet ihn eine Vopo-Streife zur Pannenhilfe bei einer Familie, deren kontaktfreudiges Oberhaupt (Götz Olaf Rausch), das zu allem Überfluss auch noch Wagenknecht heißt, dem Fluchthelfer furchtbar auf die Nerven geht. Der Reifenwechsel findet in Sichtweite des Rastplatzes statt, auf dem Gisela (Angelika Bender) zunehmend unruhig wird. Derweil braust Poll, in dessen Kofferraum Erika nach dem Rollentausch umsteigen sollte, angesichts der Vopos ohne anzuhalten weiter; und Bremer hat nun nach endlich vollzogener Pannenhilfe eine Frau zuviel im Auto. Als Erika herausfindet, dass die Geschichte von der Verlobten erstunken und erlogen ist, kommt es zu einem Handgemenge, bei dem sie unglücklich stürzt. Das Problem mit der überzähligen Frau ist damit jedoch nur scheinbar gelöst, denn als Kommissar Schmidt das Foto der von der Volkspolizei umgehend als Bundesbürgerin identifizierten toten Erika auf den Tisch bekommt, schwant ihm, dass er die Dame schon mal gesehen hat; den Moment, als ihm das Licht aufgeht, erzählt das das Drehbuch gleichfalls sehr geschickt.
Über weite Strecken wird die Geschichte ausschließlich aus Sicht der beiden Fluchthelfer erzählt; im letzten Akt wechselt die Perspektive jedoch komplett zu Schmidt und seinem Mitarbeiter Hassert (Ulrich Faulhaber), dessen Merkmal ein unerschöpflicher Lederkoffer ist, aus dem er die ungewöhnlichsten Dinge hervorzaubert. Ähnlich wie seinem „Tatort“-Vorgänger Paul Esser (zwei Fälle) war auch Schmidt-Darsteller Martin Hirthe keine lange Kommissarskarriere vergönnt. Nach drei Filmen war Schluss für den Schauspieler, der sich vor allem durch eine markante tiefe Stimme auszeichnete und wenige Jahre nach seinem letzten Fall mit gerade mal sechzig Jahren starb. Im letzten Drittel wirkt auch der vorübergehend aus dem Film verschwundene George wieder mit: Poll hält sich gemeinsam mit Gisela in München auf, und dorthin verlagert sich nun die Handlung, weshalb beim Finale, als Gisela für Bremer zur lästigen Zeugin wird, auch die Münchener Kollegen Veigl (Gustl Bayrhammer) und Lenz (Helmut Fischer) mitmischen dürfen.
Diverse Rock- und Popsongs sorgen für viel musikalisches Zeitkolorit. Klaus Doldinger hat einen Jazz beigesteuert, der in der ersten Filmhälfte angesichts der nervösen Stimmung allerdings deutlich zu entspannt klingt; im zweiten Teil wird die Musik elektronisch und spannungsgeladener. Während Gräwert die Transitszenen ohne größeren Aufwand recht packend inszeniert hat, wirken andere Momente seltsam umständlich. So zeigt er zum Beispiel gleich zu Beginn sehr ausführlich, wie Horst in einem Münztelefon erst die Groschen einwirft und dann die Wählscheibe betätigt. Dieser antiquierte Vorgang des Telefonierens ist für Nachgeborene zwar schon wieder interessant, aber ein heutiger Editor hätte keinerlei Mühe, den knapp 98 Minuten langen Film aufs übliche „Tatort“-Maß zurechtzustutzen. Sehr schräg mutet auch eine an das Musikmagazin „Beat-Club“ erinnernde Form der Bildgestaltung an, wenn die Kamera beim Discobesuch im Stakkato-Rhythmus die Brennweite verändert und permanent auf die Tanzenden und wieder zurück zoomt. Eher wie eine Pflichtübung wirkt schließlich ein Diskurs am Rande über die juristischen, politischen und moralischen Aspekte der Fluchthilfe, die im Osten selbstredend schwer bestraft wurde, im Westen aber nur in Fällen von Begleitkriminalität strafrechtlich verfolgt wurde. (Text-Stand: 13.6.2017)