Der achte „Tatort“ mit Meret Becker und Mark Waschke beginnt im Stil einer „Sinfonie der Großstadt“: das nächtliche Berlin zu den elektronischen Rhythmen von Nils Frahm („Victoria“). Straßenszenen im Zeitraffer, eine Joggerin, ein Liebespaar im Bett, ein Bäcker vor Arbeitsbeginn, ein alter Mann am Fenster. Vertrautes, aber auch Irritierendes: Gleich am Anfang trottet eine Wildschweinherde über die Straße vor der Gedächtniskirche. Und im Coffee-Shop serviert ein Roboter den Nachtschwärmern heiße Getränke. Ein freundlicher Sprachassistent nimmt die Bestellung auf, allerdings entdecken drei junge Leute eine männliche Leiche in dem verschlossenen, rundum verglasten Automaten. Und die Wunde im Nacken des Toten sieht so aus, als habe dort der Roboter höchstselbst hineingepiekst. Das nicht ganz nüchterne Trio findet es witzig und schießt ein Selfie.
Zwei getrennte Kriminalfälle, asymmetrisch erzählt
Dem vieldeutigen Titel „Tiere der Großstadt“ wird der Film nicht nur durch die beiläufigen Auftritte von Hunden, Tauben, Krähen, einem Vogel im Käfig und einem Fuchs gerecht. Wildschweine und Katzen spielen sogar in der Handlung eine mitentscheidende Rolle. Die animalischen Nebendarsteller sollen auch bewusst einen Kontrast bilden zu den Maschinen der Moderne. Die vielfach ausgezeichnete Autorin Beate Langmaack („Guten Morgen, Herr Grothe“, „Blaubeerblau“) hat zwei getrennte Kriminalfälle erdacht: Da sind zum einen der vom Roboter getötete Coffee-Shop-Besitzer Tom Menke (Martin Baden) und zum anderen die bereits erwähnte Joggerin, Carolina Gröning, die nach einem Wildschwein-Biss verblutet. Ihre Leiche wird erst später gefunden – die Fälle werden gewissermaßen asymmetrisch erzählt, erst am Ende werden Parallelen erkennbar. Langmaack will hier zwei menschliche Ur-Ängste zusammenbringen. „Die Angst vor der zerstörerischen Wucht der Natur und die Angst vor einer Zukunft, in der Maschinen, die nur noch von wenigen Spezialisten beherrschbar sind, uns massiv manipulieren“, erklärt die Autorin. „Aber egal, wie weit diese beiden Pole von Urzeit und Science-Fiction auseinander liegen, der Mensch an sich ändert sich nicht.“
Das winterliche Berlin ist kein düster-grauer Einheitsbrei
Dieser etwas konstruiert und verkopft klingende Ansatz funktioniert im Film überraschend gut. Die beiden ungewöhnlichen Fälle – keines der Opfer stirbt direkt durch Menschenhand – werden alles in allem schlüssig erzählt und kommen auch ohne die üblichen Tatverdächtigen aus, die gerne zur Ablenkung des Publikums am Anfang präsentiert werden. Auf temporeiche Verfolgungsjagden und typische Großstadt-Kriminalität wird ebenfalls verzichtet. „Tiere der Großstadt“ hat zwar keine atemlose Spannung zu bieten, ist aber ein atmosphärisch intensives Krimi-Drama mit interessanten Geschichten und Charakteren. Nur ein Mal, als mit Grönings Mutter eine Figur wie aus dem Nichts auftaucht, der Polizei einen entscheidenden Hinweis gibt und dann wieder von der Bildfläche verschwindet, wirkt das Drehbuch etwas simpel gestrickt. Dafür zeigt die im winterlichen Berlin gedrehte Folge – im Grunewald liegt noch Schnee – keinen düster-grauen Einheitsbrei. Die Inszenierung von Roland Suso Richter besticht durch eine facettenreiche Mischung unterschiedlicher Schauplätze, ist visuell herausragend (Kamera: Max Knauer) und musikalisch prägnant.
Katzenstreu im Wohnzimmer und ein zeitloser Blick auf die Stadt
Da sind die öffentlichen Plätze im Herzen des alten West-Berlin, wo Kommissar-Anwärterin Anna Feil (Carolyn Genzkow) bei der vergeblichen Suche nach Tat-Zeugen mit ihren Polizei-Flugblättern verloren und frierend an der Straßenecke steht. Da ist das private Berlin, in dem die Angst der Menschen vor Einsamkeit skurrile und traurige Blüten treibt: Tierliebhaber, die ihr Wohnzimmer mit Katzenstreu auslegen; Eltern, die die winzigen Schuhe ihres kurz nach der Geburt verstorbenen Sohnes im Flur aufbewahren. Großartig von Kamera und Licht in Szene gesetzt sind die Dialoge von Kommissar Robert Karow (Mark Waschke) mit dem greisen Albert, gespielt von dem fast 90-jährigen Horst Westphal („Wolke 9“). In Alberts Wohnung scheint die Zeit stehen geblieben, und so ordnet der alte Herr, der vom Fenster aus auf die Stadt herabblickt, auch die eigenen Erinnerungen zeitlich nicht immer korrekt ein. Neben Westphal hat die Produktion einen weiteren Besetzungs-Coup zu bieten: Theater-Star Valery Tscheplanowa, Schauspielerin des Jahres 2017, stand das erste Mal für einen „Tatort“ vor der Kamera. Hier spielt sie Kathrin Menke, die Witwe des Coffee-Shop-Besitzers mit Katzentick und geheimnisvoller Aura. Die Szenen mit Waschke und Tscheplanowa haben eine besondere Intensität, und es zeigt sich, dass Karow auch mitfühlend und sensibel sein kann.
Monsterkabinett, Roboter-Fußball und ein Live-Blog aus dem Grunewald
Die Ermittlungen führen ihn und Kollegin Nina Rubin (Meret Becker) in gegensätzliche Welten: Im Berliner „Monsterkabinett“ spüren sie Nele (Lily Menke), die Geliebte des toten Coffee-Shop-Besitzers, auf. Die altmodischen Grusel-Figuren des finsteren Kabinetts korrespondieren natürlich mit den Robotern, die etwa in den hell ausgeleuchteten Räumen des IT-Entwicklers Klaas Andresen (Frank Leo Schröder) Fußball spielen. Und dann ist noch Stefanie Stappenbeck in einer Gastrolle als unverwüstlich zeltende Natur-Anbeterin zu sehen, die live aus dem Grunewald bloggt. Sie findet die Leiche von Carolina Gröning und schenkt den Kommissaren zwei Pflanzen, als „Gruß vom Heiligen Wesen“. Natürlich vs. künstlich, Vergangenheit vs. Zukunft – die, wenn man so will, bipolare Struktur dieser Folge gilt auch für die Polizei mit ihrem hier recht krassen Oben und Unten. Jedenfalls scheuchen Karow und Rubin ihre Assistentin derart umher, dass Anna Feil irgendwann die Faxen dicke hat. Und einmal brüllt der wie üblich arrogante, schlecht gelaunte Kommissar den jungen Kollegen und IT-Experten Mark Steinke (Tim Kalkhof) derart zusammen, dass die Wände wackeln.
Einzelgänger Karow hat jetzt eine Sprach-Assistentin
Karow bleibt eine wunderbar rätselhafte Figur, die sich mehr aus Andeutungen zusammensetzt denn aus Gewissheiten. Diesmal bahnt sich etwas zwischen ihm und Rechtsmedizinerin Nasrin Reza (Maryam Zaree) an. Daheim liegt ein schwarz umrandeter Briefumschlag, doch wer da gestorben ist, erfährt man (noch) nicht. Dafür hat Einzelgänger Karow jetzt – passend zum Sujet der Folge – eine Sprach-Assistentin, womit auch ein klein wenig Dialog-Humor in diesem Film Einzug hält. Komisch ist außerdem Meret Beckers atemloser Monolog als Beifahrerin, weil Rubin ihrem Sohn Tolja (Jonas Hämmerle) am Lenkrad so gar nichts zutraut. Ansonsten wirkt die von ihrer Familie verlassene Kommissarin einsam und verletzlich. Ihr Verhältnis zu Karow bleibt distanziert und angespannt, aber schließlich gibt es hier zwei Fälle zu lösen. Da bekommen beide ihr Erfolgserlebnis. (Text-Stand: 29.8.2018)