Die Woche beginnt alles andere als gut für Frank Thiel (Axel Prahl). Erst findet er seine Ausgehschuhe nicht, muss also mit Pantoffeln zum Tatort eilen, wo ihm der Schrecken in die Glieder fährt. Ist das nicht Wilhelmine Klemm (Mechthild Grossmann), die da hinter dem Dom mausetot auf dem Asphalt liegt? Bei genauerer Inspektion erkennt er, dass es sich bei der Toten nur um eine Frau handelt, die der Staatsanwältin verblüffend ähnlich sieht. Doch warum liegt eine Schachtel von Klemms Zigarettenmarke neben der Leiche, obwohl die Ermordete doch eine militante Nichtraucherin gewesen ist? Einen Tag später befindet sich eine weitere Leiche auf dem Obduktionstisch von Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) – und voller Entsetzen blickt Silke Haller (Christine Urspruch) auf den Körper der Toten: Die Frau, die man aus dem Kanal geborgen hat, ist nicht nur wie sie kleinwüchsig, sondern sie trug auch ihren selbstgestrickten Schal, den sie schon seit längerem vermisst hatte. Da Boerne eine Tweet-Mütze abhandengekommen ist und Thiel seine Schuhe nach wie vor nicht finden kann, liegt der Schluss nahe, dass hier jemand eine Mordserie plant. Jeden Tag muss offensichtlich ein Mensch, der ähnlich aussieht wie eine(r) aus dem Team um Kommissar Thiel, dran glauben. Es sind unschuldige Menschen, die allein das Pech haben so auszusehen, wie sie aussehen. Am Mittwoch hat Thiels „Vadder“ Herbert (Claus D. Clausnitzer) in seinem Taxi einen seltsamen Fahrgast: Es ist Birgit Brückner (Kathrin Angerer), eine Angestellte aus dem städtischen Bürgerbüro, die ein düsteres Geheimnis hat. Ist sie die Mörderin? Wenn ja, bleibt sie ihrem Muster treu? Oder will sie dem Kommissar persönliches Leid zufügen?
Foto: WDR / Thomas Kost
Dem „Tatort – Spieglein, Spieglein“ liegt eine kluge Prämisse zugrunde. Serienkiller töten nach Mustern. Diese Erkenntnis wird in Profiling-Thrillern seit 20 Jahren auch im deutschen Fernsehen hinlänglich ausgeschlachtet und hat viele hanebüchenen Plots hervorgebracht. Drehbuchautor Benjamin Hessler („Tatort – Treibjagd“, „4 Blocks“, „Mordkommission Berlin 1“, „Das goldene Ufer“) muss sich gedacht haben, im Rahmen einer Kriminalkomödie sei es jetzt mal an der Zeit, mit dieser penetranten Ernsthaftigkeit, mit der diese Muster in Krimireihen behandelt werden, zu brechen und sie dem „Tatort“ Münster gemäß mit einem leichten Augenzwinkern zu versehen. Was passiert also, wenn der Racheplan nicht die eigentlichen Hassobjekte trifft, sondern Unschuldige? Dieses variierte Muster besitzt einen ernsthaften Effekt: Thiel & Co müssen zwar selbst nicht sterben, sie ereilt aber das Gefühl völliger Ohnmacht – Angstschweiß auf der Stirn und kalte Schauer, die über den Rücken laufen, inklusive. Es ergibt sich aber auch ein angenehmer Nebeneffekt für den Zuschauer: Das rituelle Gewitzel zwischen Boerne, Thiel, Haller, Klemm und Krusenstern, die in dieser Episode im Urlaub weilt und von Mirko Schrader (Björn Meyer) nicht nur kaffeekochend, sondern auch kriminalistisch gut vertreten wird, macht nach den ersten beiden Morden Pause. Alle sitzen im selben Boot. Und so gibt es statt kurzatmiger, vordergründiger Gags eine ironische Ebene, die sich unaufdringlich durch die Narration zieht. Das Ganze gipfelt in Bildern, die Autor Hessler in Anlehnung an die Schauerliteratur als „schwarzromantisch“ bezeichnet (Klemm: „So sehe ich aus, wenn ich einmal tot bin“), aber auch in absurden Situationen, die vor allem durch das Doppelgänger-Motiv launig belebt werden. Da sitzen sich auf einmal der Gerichtsmediziner und ein Musiker (auch von Liefers gespielt) gegenüber, die sich gleichen wie ein Ei dem anderen, tauschen ihre Brillen und verfallen auf narzisstisches Palaver, bevor den Todeskandidaten ein fallentscheidender Gedankenblitz überkommt.
Foto: WDR / Thomas Kost
Nicht minder originell ist der Rollenwechsel, der sich aus dieser Geschichte ergibt. Die Staatsanwältin und Boernes rechte Hand sind nun plötzlich wichtige Zeugen, die sich zu erinnern versuchen, wann ihnen die Zigarettenschachtel und der besagte Schal abhandengekommen sind. Die beiden erweisen sich als Informanten für den Fall aber als genauso schlecht wie der Professor in Bezug auf das Verschwinden seiner Mütze. Diese Umkehr der angestammten Rollen ist amüsant und sie ermöglicht einige drollige spielerische Momente, die über das übliche Münsteraner Gekaspere hinausgehen. Den Figuren selbst vergeht allerdings zunehmend die Lust am Frotzeln. Vor allem Thiel, der mit dem SEK in die Wohnung eines Verdächtigen einfällt, muss sich wenig später kleinlaut die Vorwürfe dieses Mannes anhören: „Sie wissen gar nicht, was Sie für eine Macht haben im Leben von anderen Menschen.“ Und auf der Zielgeraden wird auch der Kommissar seinem Alter Ego gegenüberstehen, während auf diesen eine Pistole gerichtet ist. Zu diesem Showdown kann es nur kommen, weil Benjamin Hessler eine glänzende Drehbuchidee hat: Der Mörder ist der Polizei immer einen Schritt voraus, er bestimmt die Spielregeln. Wie könnte man nun diesen Teufelskreis durchbrechen? fragt sich Boerne. Da er und Thiel mehr über die Opfer als über die Täter wissen, lassen sie kurzerhand mit Phantomfotos nach sich selbst fahnden, um potenzielle Opfer zu retten und um den Mörder zu verwirren.
Weil man als Kritiker nicht zu viel verraten sollte, um dem Zuschauer nicht die Lust am Kombinieren zu nehmen, mag das, was „Spieglein, Spieglein“ so besonders macht, in diesem Text etwas abstrakt klingen. Dieser „Tatort“ aber ist wie die meisten aus Münster ein leichtes, unterhaltsames Vergnügen. Der Film besitzt einen klaren Erzählrhythmus und entwickelt unter der umsichtigen Regie von Matthias Tiefenbacher (3x „Tatort“-Münster: „Tempelräuber“, „Herrenabend“, „Summ, Summ, Summ“) je nach narrativer Tonlage die entsprechende filmische Stimmung: Nach zehn Minuten wird’s (für die Protagonisten) unheimlich, die Situation bleibt rätselhaft, bis sie zur Halbzeit absurde Züge annimmt, und im Schlussdrittel wird es spannend. Die Auflösung kann sich zwar jeder einigermaßen krimierfahrene Zuschauer selbst zusammenreimen, aber das entspricht ja ganz dem Prinzip des „Tatort“ Münster: ein bisschen verblüffen ja, anstrengend sein nein! Der Zuschauer wird bei Thiel & Co selten überfordert. Auch im 34. Film bedarf es weder besonderer intellektueller Anstrengungen noch ästhetischer Entschlüsselungstechniken. „Spieglein, Spieglein“ ist ein Krimi für jedermann: die Psychologie hinter der Mordserie alles andere als neu, die Handlung dafür gut durchdacht, der Film gekonnt gemacht, und selbst wenn man das Ende ahnt – das Wie (es dazu kommt) macht hier die Musik. Das ist klassisches Gratifikationsfernsehen: Am Ende darf sich der Zuschauer bestätigt fühlen, mit einem Schmunzeln im Gesicht.