Tatort – Schutzlos

Stefan Gubser, Manuel Flurin Hendry und ein sehr ungewöhnliches Schweiz-Bild

Foto: SRF / Daniel Winkler
Foto Tilmann P. Gangloff

„Schutzlos“ ist ein Schweizer „Tatort“ mit Botschaft. Vordergründig geht es um die Suche nach dem Mörder eines jungen Nigerianers aus dem Luzerner Drogenmilieu, aber in erster Linie will der freudlose Film über das triste Schicksal elternloser jugendlicher Flüchtlinge informieren, die erst abgeschoben werden dürfen, sobald sie volljährig sind. Regisseur Manuel Flurin Hendry erzählt die deprimierende Geschichte mit angemessen trostlosen Bildern. Das wenig identifikationsträchtige Realismuskonzept ist interessant, aber kein „Vergnügen“!

„Schutzlos“, der siebte „Tatort“ aus Luzern, ist ein Krimi aus dem Asylanten- und Drogenmilieu, der zugunsten eines spröden Abbildrealismus’ weitgehend auf Identifikation verzichtet und in dem die afrikanische Parallelgesellschaft Ermittlern und Zuschauern gleichermaßen fremd bleibt. Die Geschichte ist düster, die Schauplätze sind trist, die Umsetzung ist farbentsättigt, die Musik erfüllt die Räume mit coolen Acid-Sounds und die Handlung ist konsequent jedes Hoffnungsschimmers beraubt. Sie beginnt mit dem Asylantrag eines Teenagers aus Nigeria. Zwei Jahre später ist der Junge Mitglied der Drogenszene. Er und seine Kumpane werden überfallen, kurz drauf wird seine Leiche gefunden. Für den Kripochef keine große Sache, der Afrikaner wäre ohnehin bald abgeschoben worden und existierte aus Schweizer Sicht somit quasi schon nicht mehr. Reto Flückiger und Kollegin Liz Ritschard aber lassen nicht locker und landen umgehend in einem Sumpf, der so gar nicht zu den pittoresken Postkartenbildern passen will, mit denen sich die Schweiz gern schmückt.

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„Felix Novo de Oliveras Farbkonzept mit den fast wie handkolorierten Bildern fasziniert und befremdet zugleich. Es rückt das Drogen- und Flüchtlingsmilieu […] in eine eher ästhetisierte Ferne, die aber gerade dadurch erst eine selbstgewählte emotionale Nähe möglich macht.“

Tatort – SchutzlosFoto: SRF / Daniel Winkler
Den Verzicht auf größtmögliche Identifikation und reflexhaftes Mitfühlen kann man – im Gegensatz zu Tilmann P. Gangloff – durchaus auch als wohltuend empfinden. Dass man mal nicht von der Emotionalisierungsmaschine überrollt wird im Fernsehen, hat in „Schutzlos“ auch etwas mit der Geschichte zu tun: Es ist nur konsequent, dass Jolas Verhalten dem Zuschauer weitgehend fremd bleibt. Navid (Rauand Taleb) und Jola (Marie-Hélène Boyd) sind als Minderjährige ohne ihre Eltern in die Schweiz geflüchtet.

Das spiegelt sich naturgemäß auch in der Bildgestaltung wieder. Tatsächlich ist „Schutzlos“ im buchstäblichen Sinn durchaus sehenswert, denn Regisseur Manuel Flurin Hendry und sein Kameramann Felix Novo de Oliveira haben für die trostlose Geschichte die richtigen Bilder gefunden; und das nicht nur, weil die Straßenszenen ausgesprochen schäbig wirken. Kostümbild und Ausstattung sind überwiegend grauschwarz, die Außenaufnahmen sehen wie zu heiß gewaschen aus, was wiederum zur Folge hat, dass ausgerechnet die Wohnung eines Junkies dank des Kerzenlichts regelrecht heimelig anmutet. Die Optik ist Kunst, der Inhalt ist Botschaft, weshalb es wie immer, wenn es Buch und Regie nicht verstehen, ein Anliegen elegant zu verpacken, zu einem entsprechenden Kurzvortrag kommt; in diesem Fall referiert eine Sozialarbeiterin über das erbarmungswürdige Los jugendlicher Flüchtlinge (im Beamtenjargon „unbegleitete minderjährige Asylsuchende“), die erst abgeschoben werden dürfen, wenn sie volljährig sind. Die Zeit bis dahin müssen sie absitzen; Arbeit oder Ausbildung sind ihnen nicht gestattet. In einem zweiten Exkurs informiert ein etwas grobschlächtiger Kollege aus dem Drogendezernat das Duo aus der Mordkommission, wie der Drogenhandel funktioniert. Solche Szenen wirken wie Fortbildungen – fürs Publikum.

Repräsentantin der bedauernswerten Flüchtlinge ist die Schwester (Marie-Helene Boyd) des toten Jungen, die ein erbarmungswürdiges Martyrium hinter sich hat. Obwohl sie mehr und mehr zur Hauptfigur der Geschichte wird, gelingt es Hendry nicht, sie einem ans Herz wachsen zu lassen (oder verzichtet er bewusst darauf?). Das ist natürlich eine subjektive Empfindung, aber Filme spielen sich ja grundsätzlich im Kopf (oder auch im Herzen) des Zuschauers ab; Leinwände und Bildschirme sind bloß Medien. Die Handlung wird zunehmend verworrener, was auch daran liegen könnte, dass gleich zwei Autorenpaare am Werk waren, bevor Hendry seine Regiefassung schrieb. Fast interessanter als die Schicksale der jungen Asylbewerber ist eine Fußnote des Films, die gegen Ende noch richtig wichtig wird: Flückiger leidet unter anfallartigen, mit Halluzinationen verbundenen Kopfschmerzen, die ihn immer wieder außer Gefecht setzen. Erst später dämmert ihm, dass nicht jedes während einer solchen Attacke wahrgenommene Phänomen eine Vision ist. Die Aufnahmen von Flückigers Boot mit dem See und der Stadt im Hintergrund sind übrigens die einzigen wirklich schönen Bilder des Films, der bei einigen Prügelszenen auch auffallend brutal ist. Handwerklich ein guter, filmästhetisch ein ungewöhnlicher „Tatort“, inhaltlich aber schwerer Stoff, alles andere als ein „Vergnügen“, zumal das Ende angemessen deprimierend ist. (Text-Stand: 9.6.2015)

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Reihe

SRF

Mit Stefan Gubser, Delia Mayer, Marie-Helene Boyd, Rauand Taleb, Charles Mnene, Andreas Krämer, Sonja Riesen, Marcus Signer, Mona Petri, Jean-Pierre Cornu

Regie: Manuel Flurin Hendry

Kamera: Felix Novo de Oliviera

Szenenbild: Marion Schramm

Soundtrack: The Notwist, Beat Solèr

Produktionsfirma: Hugofilm Productions

Drehbuch: Manuel Flurin Hendry, Josy Meier, Eveline Stähelin, Waltraud Ehrhardt, Peter Obrist

Regie: Manuel Flurin Hendry

EA: 05.07.2015 20:15 Uhr | ARD

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