„Alle haben es richtig gemacht, aber es ist das Falsche dabei herausgekommen“, sagt Oberstleutnant Moritz Eisner am Ende. Gemeinsam mit Kollegin Major Bibi Fellner muss er keinen Mord aufklären, sondern einen Doppelmord und eine Selbsttötung verhindern. Die Tat wird per Videobotschaft angekündigt. Und das nicht nur bei der Polizei, sondern öffentlich im Netz. Eine gespenstische Eröffnung: Ein junger Mann, dunkel gekleidet, filmt sein nur schwach beleuchtetes Gesicht vor dem Hintergrund einer leerstehenden Fabrikhalle. Ruhig und abgeklärt erklärt er seinen Plan. Er, David Frank (Aaron Karl), habe seine Eltern entführt und werde sie töten, anschließend wolle er sich selbst richten. Er wolle damit auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam machen. Er verrät aber nicht, worum es ihm genau geht. Das sollen Eisner (Harald Krassnitzer) und Bibi Fellner (Adele Neuhauser) vor den Augen der Internet-Öffentlichkeit während der Ermittlungen erfahren. Eisner, der zum Leiter der BAO (Besondere Aufbauorganisation) berufen wird, ist genervt, dass der Entführer ihm stets einen Schritt voraus ist und dass er den Verfassungsschützer und – O-Ton Eisner – Korinthenkacker Schubert (Dominik Warta) im Team hat. Unter Davids Kommilitonen an der Uni scheint es einige Sympathisanten für die Aktion zu geben, zu denen gehört auch der Freund (Mehmet Sözer) seiner Tochter Claudia (Tanja Raunig). Viel Arbeit, viel Ärger und kaum Zeit. Ob die kritische Professorin Sarah Adler (Mercedes Echerer), Expertin für Amokläufe, helfen kann? Doch die einstige Aktivistin zeigt sich wenig kooperativ.
Kluger Kopf treibt perfides Spiel
Der „Tatort – Schock“ ist wieder mal ein spektakulärer Krimi aus Wien. Das Duo Eisner und Fellner muss im 15. gemeinsamen Fall unter großem öffentlichen Druck agieren. Und vor den Augen aller ermitteln, denn der Täter verbreitet seine Aktivitäten und die Jagd auf ihn im Internet. Rupert Henning hat den packenden Krimi geschrieben und inszeniert. Er zeichnete auch schon für den bemerkenswerten „Tatort – Grenzfall“ verantwortlich. Dieses Mal stellt er das Krimiprinzip auf den Kopf. Es geht nicht um die Mörderjagd, die Tat ist noch nicht vollzogen, es gilt, ein angekündigtes Verbrechen zu verhindern. Und dabei spielt Henning auf verschiedenen Ebenen. In der BAO sitzt ein – auf den ersten Blick – Kotzbrocken, der Eisners Vorgesetzten auf dessen Kompetenzen mit dem Satz hinweist: „Zwei Sonnen sind ein bisschen viel an einem Himmel“. Der Täter erweist sich als kluger Kopf („kein Amoklauf, keine Affekthandlung, keine Rache, keine religiös-ideologisch motivierte Tat“), er treibt ein perfides Spiel mit den Ermittlern. Und dann ist der Film noch eine Vater-Tochter-Geschichte. Denn die Spurensuche führt auch in Moritz Eisners persönliches Umfeld. Und dem wird bald klar, dass er eigentlich wenig über seine Tochter weiß: was sie macht, was sie denkt, wie es ihr geht.
Ein überfrachtetes Drehbuch? Mitnichten. Henning verschränkt die Ebenen klug und führt sie am Ende zu einem dramatischen Finale mit überraschendem Ausgang zusammen. Sicher wird zuweilen ein bisschen viel erklärt und doziert, aber es ist ein mutiger und letztlich sehr gelungener Versuch, sich einem nicht auf den ersten Blick greifbaren Thema zu widmen. Zwei zentrale Orte hat dieser „Tatort“: das Besprechungszimmer der Sondereinheit und die alte Fabrikhalle, sie bilden einen guten Kontrast. Sparsam eingebaut sind Rückblenden, die das Motiv des jungen David zeigen, der von seinem Vater, einem hochdekorierten und gefeierten Mathematik-Professor, schon in jungen Jahren erklärt bekommt: „Niemand fragt dich später, wer du bist, sondern was du bist“. Die Eltern, die man aktuell in der Entführungssituation nie zu Gesicht bekommt, leben in einer noblen Villa mit blank geputztem Flügel und Fischgrätparkett. Bibi beschreibt das Haus in ihrer trocken-witzigen Art so: „Hier ist es kalt, obwohl geheizt ist“. Diese und andere pointierten Sätze zwischen den Ermittlern sorgen für auflockernde, keineswegs aufgesetzte Atmosphäre, in einem Krimi, der sich im Stile eines Psycho-Thrillers dem Verbrechen nähert und auf Spannung setzt, aber auch aufklären will: Es geht um den Leistungsdruck auf die gegenwärtige Generation junger Menschen – bei schwindenden Zukunftsperspektiven. Das erfährt David am Beispiel seiner Freundin und das erklärt Eisners Tochter Claudia ihrem Vater: „Wir sind die Pflichterfüller-Generation“. Nach außen hin funktioniert die sogenannte Generation Y perfekt, doch sie droht am permanenten Druck zu zerbrechen. Es sind durchweg relevante Themen unserer Zeit, die Henning hier behandelt und dabei Fragen aufwirft: Wie weit darf man gehen, um auf Missstände aufmerksam zu machen? Gibt es eine Form von gerechtfertigter Gewalt?
Gast-Hauptdarsteller Aaron Karl: der Verschwendung Riegel vorschieben
„Unsere Generation muss endlich über das blinde Konsumieren hinauswachsen. Wir bekommen so viele Dinge geboten von Lebensmitteln bis zur Kleidung, die auf der anderen Seite des Planeten so viel Zerstörung und Leid anrichten, und sind zu gemütlich, um zu hinterfragen, wie das ganze Zeug eigentlich produziert wird. Und wenn wir es wissen, sind wir zu stur, um unser Verhalten zu ändern.“
Wie der Vater so der Sohn
Über das Duo Harald Krassnitzer / Adele Neuhauser muss man nicht mehr viel Worte verlieren, das Zusammenspiel funktioniert bestens, die Dialoge sind mal prägnant, mal pointiert. Und auch Hubert Kramar ist und bleibt eine Institution im Wiener „Tatort“. Wie er als Vorgesetzter und Freund mit Eisner im Funkspruchstil kommuniziert, ist einfallsreich. In seiner ersten Hauptrolle ist Aaron Karl zu sehen. Der Sohn von Fritz Karl stand schon als Sechsjähriger in „Das ewige Lied“ vor der Kamera, spielte kleinere Rollen im „Tatort“ und ist Musiker in verschiedenen Bands. Jetzt nutzt er die Gelegenheit, sein schauspielerisches Können zu zeigen: Sein David schockt, er hat etwas verstörendes, bedrohliches, aber er steht nicht für das Böse, sondern ist so etwas wie ein (letzter) Aufschrei. (Text-Stand: 1.1.2017)