Stark an den Fall Natascha Kampusch angelehnt ist der „Tatort – Rebecca““. Die Österreicherin wurde im Alter von zehn Jahren gekidnappt und acht Jahre lang in einem Haus gefangen gehalten. 2006 konnte sie fliehen, ihr Entführer beging daraufhin Selbstmord. „3096 Tage“ hieß der Film nach Natascha Kampuschs Autobiografie, der 2013 in die Kinos kam und nur rund 400 000 Zuschauer fand.
Die Natascha heißt im Bodensee-„Tatort“ Rebecca, ihr Martyrium dauert gar 15 Jahre und sie zündet den Mann, der ihr die Kindheit und Jugend raubte, an. So startet der neue Fall mit Klara Blum (Eva Mattes), der weit mehr Drama denn Krimi ist. Rebecca (Gro Swantje Kohlhof) ist 17, als die Polizei sie findet, nicht ansprechbar, apathisch, traumatisiert. Sie wurde von Olaf Reuter in seinem Haus gefangen gehalten und zu einer pseudoreligiös auf ihn fixierten Fanatikerin erzogen. Klara Blum und Psychologin Prof. Schattenberg (Imogen Kogge), unter deren Obhut Rebecca kommt, finden keinen Zugang zu der jungen Frau. Nur auf Kai Perlmann (Bezzel) reagiert sie zu seiner großen Verblüffung, denn sie sieht in ihm ihren neuen „Erzieher“, gehorcht ihm aufs Wort. Perlmann will diese Rolle zunächst nicht übernehmen, doch Klara und er müssen herausfinden, ob nicht noch in zweites Mädchen in Reuters sadistischer Gewalt war. Wenn ja, lebt es noch? Und gibt es einen Mittäter?
Beeindruckend spielt die junge Gro Swantje Kohlhof. Die ist gerade mal Anfang 20, wagt sich gerne an schwierige Rollen, überzeugte schon in „Tore tanzt“ und im Bremer „Tatort – Die Wiederkehr“, in dem sie ein lange Zeit verschwundenes Mädchen spielte. Ihr Rebecca ist eine junge Frau, die einem perfiden Spiel ausgesetzt war, Befehl und Gehorsam prägten ihren Alltag. Diese Verstörtheit, dieses gebrochen sein, diesen anerzogenen religiösen Fanatismus, diese geraubte Kindheit und Jugend bringt die Mimin intensiv, wohldosiert und nuanciert zum Ausdruck. Wenig Text, viel Ausdruck – mit behutsamer Mimik und Gestik agiert sie. Diese Gro Swantke Kohlhof wird einem wohl in den nächsten Jahren noch öfter im TV begegnen.
Und man kann sich jetzt schon darauf freuen. Marco Wiersch, als Autor für einige „Bloch“-Filme mit psychologischen Themen bestens vertraut und auch Drehbuchschreiber des Anfang 2016 gesendeten Zweiteilers „Der Fall Barschel“, schickt die beiden Kommissare in psychische Grenzsituationen. Sie müssen den Zugang zu dem Mädchen finden, um vielleicht ein anderes Mädchen retten zu können. Die Blum nimmt das seelisch mit, Perlmann ist verwirrt, weil er einen Rollenwechsel vollziehen soll: Als „Erzieher“ des Mädchens soll er sie zum Reden bringen. Ein kluger Schachzug des Autors, der der Rolle noch einmal eine neue Facette geben will. Überhaupt ist die Story geschickt gebaut: Im Mittelpunkt steht Rebecca. Mit dieser Figur geht Wiersch in die psychologische Tiefe. Und um Krimispannung zu erzeugen, lässt er die Kommissare nach einem zweiten Mädchen suchen. Wie er das alles auflöst, ist zwar nicht sehr überraschend, aber logisch und auch sehr emotional.
Erstmals in einem „Tatort“ führt der junge Österreicher Umut Dag Regie. Der frühere First-Steps-Award-Gewinner machte erstmals 2012 mit ersten Langfilm „Kuma“ (lief auf der Berlinale) auf sich aufmerksam. Der beschäftigte sich mit traditionellen türkischen Familienstrukturen. Und Krimi hat der Filmemacher in der harten und realistischen österreichischen Polizeiserie „CopStories“ gelernt. Im „Tatort – Rebecca“ erhitzt die Suche nach dem zweiten Mädchen die Gemüter, Dag inszeniert aber wohltemperiert. Er ist nah an den Figuren, nimmt sich viel Zeit für sie, vermeidet voyeuristische Szenen oder Beschreibungen über die Gefangenschaft dieser verstörten, traumatisierten jungen Frau, geht sehr behutsam mit der Hauptfigur um und führt sie geschickt durch den Film. Gutes Timing, klare Bilder, knappe Dialoge führen zu einer eindrucksvoll-düsteren Seelenschau.
Der vorletzte „Tatort“ aus dem Südwesten zeigt die Stärken, aber auch die Schwächen der Krimis rund um den Bodensee. Es waren meist interessante, ungewöhnliche Geschichten, man wagte und experimentierte gern für und mit den Ermittlern Klara Blum und Kai Perlmann. Das trifft auch auf den „Tatort – Rebecca“ zu. Doch so sehr die Blum auch noch stärker emotionalisiert wird, so sehr Perlmann die psychische Last aufgebürdet wird – die beiden Figuren scheinen nach den Jahren auserzählt. Ein Wechsel tut sicher gut. Ein starkes Finale ist ihnen zu wünschen, das Vor-Finale ist schon mal sehenswert. (Text-Stand: 20.12.2015)