Isabelle Grandjean (Anna Pieri Zürcher) und Tessa Ott (Carol Schuler) staunen nicht schlecht: Die Leiche von Vanessa Thomasi hängt wie aufgespießt in einer kahlen Baumkrone. Das Bild erinnert an den Schweizer „Tatort – Schattenkinder“ (2002), in dem die Opfer einer Sekte wie eingewebte Raupen in ihren Kokons von der Decke einer Fabrikhalle baumeln. Solche Spektakel mag nicht jeder Zuschauer, sicher aber viele Regisseure. „Tatort – Rapunzel“ ist der dritte Zürich-Tatort unter der Regie von Tobias Ineichen. Der erklärt seine Inszenierung als „im Stil etwas überhöht, ohne dabei die klassische, glaubwürdige Ermittlungsarbeit der Kommissarinnen zu beeinträchtigen“. Die Tonart gelingt Ineichen ebenso wie die Fortschreibung des Miteinanders im Team, das immer wieder mit ironischen Momenten überzeugt. Für Ineichen vertrautes Terrain.
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Einen größeren Sprung wagt Drehbuchautor Adrian Illien. Statt in der verschneiten Bergwelt von „Davos 1917“ (2023) bewegt sich der Headautor der gleichnamigen, erfolgreichen Historienserie durch das Zürich von heute. Die Ermittlungen führen in den Friseursalon von Vanessas Vater Marco Thomasi (Bruno Cathomas) und in die Wohnung des Opfers. Hier schon etablieren Ineichen und Illien den Gegensatz von oben und unten: Hier der hell ausgeleuchtete Salon des Zürcher Star-Coiffeurs, da die abgedunkelt-staubige Studentenbude seiner Tochter und deren Freundin Lynn (Elsa Langnäse). Auf Platz drei bekommt das Märchen seinen (Schau-)Platz. Das Atelier von Aurora Schneider (Stephanie Japp), eine ehemalige Kollegin und Freundin von Thomasi, ist ein stiller, abgelegener Ort. Das Haus am Stadtrand ist von Efeu umwachsen. Vanessa hasste die glanzlose Abgeschiedenheit der Perückenwerkstatt ihrer Lehrmeisterin. Die wird als nachdenklicher Charakter eingeführt. Aurora Schneider pflegt ein Kunsthandwerk, das nur noch wenige beherrschen, behütet eine teilweise todkranke Kundschaft und hütet selbst ein Geheimnis. Kurz vor dem Mord an Vanessa wurden Aurora Haarteile im Wert von über 100.000 Franken gestohlen. Leise Glockentöne begleiten die Szenen in ihrem Atelier (Musik: Fabian Römer). Bis auf den treibenden Sound, der zu Filmbeginn Vanessas Verfolgung dramatisiert, hält sich die musikalische Begleitung von „Rapunzel“ wohltuend zurück.
Auf der Suche nach Vanessas Mörder dringen die Zürcher Ermittlerinnen bald zu den Akteuren des legalen und illegalen Handels mit Echthaar vor. Eine Gegenwelt zu Schneiders Atelier bildet das Unternehmen „Majestic Hair“. Das Geschäftsführer-Ehepaar von Landeck handelt mit Haarspenden aus Indien und hat unkoschere Haarteile an jüdische Familien verkauft. Verschiedene Verdachtsmomente, die die von Landecks belasten, bündeln die Kommissarinnen mithilfe ihres Assistenten Noah Löwenherz (Aaron Arens) zu einem beweissicheren Strang.
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Löwenherz, bisher eher graue Maus vorm Monitor, ist diesmal wesentlich für Humor und Hintergründigkeit im Team zuständig. Sein Beitrag zur Haar-Thematik ist ein Schnauzer, zu dem jede Kollegin eine Meinung hat. Tenor des Zürcher Damentrios, das durch Staatsanwältin Wegenast (Rachel Braunschweig) komplettiert wird: Der Schnauzer steht ihm gut! Zusätzlich gewinnt Löwenherz durch wichtige Beobachtungen und seine Beziehung zu einer jüdischen Kundin von Marco Thomasi an Gewicht.
Zum letzten Drittel von „Tatort – Rapunzel“ stehen verschiedene Verdachtsmomente im Raum. Störte Vanessa Thomasi die illegalen Geschäfte der von Landecks? Wollte sie ihren Vater erpressen? Oder geriet sie einem Racheengel ins Visier? Wo die Verdachtsstränge neu geflochten werden, setzt die Architektur der Bibliothek der Rechtswissenschaftlichen Fakultät noch einmal einen visuellen Höhepunkt. Leider gerät auf den geschwungenen Holzbrüstungen der sechsgeschossigen Galerien aber nichts in Bewegung. Ott und Grandjean müssen sich mit Beschattung und tarnenden Blicken in wahllos herausgezogene Bücher begnügen. Dafür fährt „Rapunzel“ kurz darauf schwere Action auf, deren Aufwand-Nutzen-Rechnung nicht unbedingt aufgeht. Ein Crash, der Otts Jungfernfahrt mit Grandjeans Auto ein krachendes Ende setzt, wirkt etwas an den Haaren herbeigezogen.
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Am Ende passt das Überdreh-Moment zum Modus eines Täters, der schon lange die Bodenhaftung verloren hat. Während in der oberen Etage eines Zürcher Wohnhauses erneut eine junge Frau um ihr Leben fürchtet, kommen die Ermittlerinnen im Verhörraum dessen Motiven auf den Grund. Es folgen der Parallel-Schnitt von Draußen und Drinnen, eine halbseitige Haar-Rasur, die böse an das erste Opfer gemahnt und ein Befreiungsversuch, der dem Märchen den Vorzug vor der Wahrscheinlichkeit gibt.
Am Ende überzeugt „Tatort – Rapunzel“ eher als Teamleistung, denn als Fall. Passend dazu geht es auf einer zweiten Erzählebene um die Verfeinerung der zentralen Charaktere. Der Zuschauer erfährt mehr über die Mutter-Tochter-Beziehungen von Tessa Ott und Isabelle Grandjean. Während Otts Mutter ihrer Tochter leibhaftig (und übergriffig) in Thomasis Salon gegenübersteht, erinnert sich Grandjean bei der Begegnung mit einem krebskranken Mädchen in Aurora Schneiders Atelier an ihre verstorbene Maman. Der knappe Austausch zwischen den Kolleginnen spült viele Gefühle hoch – von der Wut, nicht wahrgenommen zu werden, bis zur Wehmut über eine verpasste Versöhnung. Grandjean und Ott kommen sich so näher als bisher.
1 Antwort
Wieder ein Tatort, der nicht wirklich unterhält. Sondern vielmehr einen an der Menschheit verzweifeln läßt. So viele kaputte Typen auf allen Seiten. Dagegen sind Krimiserien wie Wilsberg und Nord bei Nordwest umwerfende Komödien.
Wenn der Tatort so weiter präsentiert wird, wird er Richtung 5 Mio. Zuschauer pro Folge gehen. Und dazu ist er zu teuer.