Tatort – Parasomnia

Hanczewski, Gröschel, Schiller, Mues, Yesilkaya, Marka. Vergessen und Verdrängen

Foto: MDR / MadeFor / Daniela Incoronato
Foto Rainer Tittelbach

„Parasomnia“ (MDR / MadeFor) ist nicht nur ein Krimi mit Horror-Elementen, der „Tatort“ von Sebastian Marka nach dem Drehbuch von Erol Yesilkaya bricht auch deutlich aus dem dramaturgischen Konzept eines Ermittlungskrimis aus. Im Zentrum steht die Arbeit mit einer Augenzeugin eine Mordes. Eine 16-Jährige leidet unter Parasomnie: Sie verdrängt belastende Situationen, sieht aber auch Dinge, die andere nicht sehen. An den Mord mag sie sich nicht erinnern, statt dessen wird sie von aggressiven Geistern verfolgt. Auch ohne diese  Wahrnehmungsstörung kann man sich fürchten in diesem schrecklichen Haus, das neben der großartigen Hannah Schiller die zweite Episodenhauptrolle in diesem „Tatort“-Highlight spielt. Obwohl der Film auf Spannungsmomente setzt, die aus der Psyche des Mädchens hervorgehen und ohne Geisterbahneffekte auskommen, zuckt man als Zuschauer immer wieder zusammen. Gruseln mit Gefühl, Anspielungen auf das politische Vergessen, eine klare, konzentrierte Narration und eine bilderstarke, sehr atmosphärische Inszenierung sorgen dafür, dass man sich als Zuschauer noch lange an den Film und dessen Bilder erinnern wird.

„Ich weiß, dass ich komisch bin“, sagt Talia (Hannah Schiller) selbst über sich. Die 16-Jährige leidet seit dem Tod ihrer Mutter vor acht Jahren unter Parasomnie: Sie verdrängt belastende Situationen, sieht aber auch Dinge, die andere nicht sehen. Momentan ist es besonders schlimm mit dieser Wahrnehmungsstörung, die mit Nachtwandeln und Schlafangst verbunden ist. Offenbar liegt es an dem Haus in der Nähe von Dresden, in dem die Familie einst glückliche Jahre verbrachte. Vater Ben (Wanja Mues), ein Künstler und Buchillustrator, ist mit Talia wieder dorthin zurückgekehrt. Beide hoffen auf bessere Zeiten. Doch das Mädchen wurde kurz nach der Ankunft Zeuge eines Mordes. Das Opfer ist ein Handwerker, der bei den Renovierungsarbeiten des alten Hauses geholfen hat. Der war zur falschen Zeit am falschen Ort, nehmen die Kommissarinnen an. Und schnell wird klar: Ohne Talias Mithilfe ist dieser Fall nicht zu lösen. Da die Tatwaffe, ein Messer, die Blutspuren von zwei weiteren Personen aufweist, wäre ein Serienverbrechen denkbar. Karin Gorniak (Karin Hanczewski) und Kommissariats-Leiter Schnabel (Martin Brambach) machen sich deshalb ans Aktenstudium, während sich Leonie Winkler (Cornelia Gröschel) etwas widerwillig dem „seltsamen Mädchen“ annimmt. Zu „Leo“ hat Talia sogar mehr Vertrauen als zu ihrem Vater, da die Kommissarin sie an ihre Mutter erinnert. Die Sache mit den Alpträumen aber wird nicht besser. Talia sieht sogar immer häufiger Geister, die sie verfolgen und ihr wehtun wollen.

Tatort – ParasomniaFoto: MDR / MadeFor / Daniela Incoronato
Ungewöhnliche „Tatort“-Exposition. „Talia, was siehst Du? … Erinnere Dich!“ Die Szene, in der Talia (Hannah Schiller) zur Augenzeugin eines Mordes wird, geht nahtlos über in eine Befragungssituation. Ohne Erfolg: Gorniak (Karin Hanczewski)

Der „Tatort – Parasomnia“ ist nicht nur ein Krimi mit Horrorelementen, der Film von Sebastian Marka nach dem Drehbuch von Erol Yesilkaya bricht auch deutlich aus dem dramaturgischen Konzept eines Ermittlungskrimis aus. Zwar gibt es eine Leiche, aber der Mord bleibt ausgeblendet. Als das Mädchen nach langer Zeit zum ersten Mal wieder das Haus seiner Kindheit betritt, vernimmt es merkwürdige Geräusche. Es geht ihnen nach, öffnet eine Tür, angstverzerrt der Blick, der Atem schwer. „Talia, was siehst Du? Beschreib uns, was da am Boden liegt“, hört man plötzlich Kommissarin Gorniak in der vermeintlich gleichen Szene sagen. Der Blick des Mädchens hellt sich auf. „Das sind nur meine Farbdosen – und eine hat ein Loch.“ Aus ihr quillt rote Farbe… Das Mädchen verfügt offenbar über einen gut funktionierenden Selbstschutzmechanismus. In Wahrheit hat sie an jenem unglückseligen Nachmittag eine Leiche gesehen, die in ihrem Blut lag. Ihr Vater, Gorniak, Schnabel, eine Psychologin und Talia befinden sich in dem Raum, in dem der Mord passiert ist. Gorniak versucht es noch einmal: „War da noch was anderes im Zimmer, auf dem Boden, vielleicht ein Körper?“ Das Mädchen will sich nicht erinnern. Über die Jahre hat es schon genug seelisch Belastendes bewältigen müssen. Jetzt nicht auch noch ein Mordszenario verarbeiten müssen! Sichtlich entnervt ist auch ihr Vater. Wenn es schlimmer werde, müsse Talia wieder in eine Klinik, räumt er ein. Die Kommissarinnen sehen das anders. Das Mädchen müsse sich ihren Ängsten stellen. Das bedeutet aber auch eine enorme Verantwortung für „Leo“ Winkler.

Tatort – ParasomniaFoto: MDR / MadeFor / Daniela Incoronato
Ein Bild, das eine Ausnahme darstellt: In der Regel werden die Geister, die natürlich nicht physisch real sind, aus der (subjektiven) Perspektive des Mädchens gezeigt.

Man braucht keine Parasomnie, um sich in diesem schrecklichen Haus zu fürchten. Obwohl der Film auf Spannungsmomente setzt, die ganz aus der Psyche der Episodenhauptfigur hervorgehen und ohne Geisterbahneffekte auskommen, sind etliche Szenen doch für lustvollen Schauder gut. Und weil das Mitgefühl mit dieser bedrohten Sechzehnjährigen hoch ist, steigt auch der Nervenkitzel. Das Mädchen sieht Schattenwesen, die im Haus wohnen und vor denen es sich fürchtet: Mal ist es ein Mann ohne Gesicht, mal eine weinende Frau, die Talia gefährlich nahekommt, mal haben es gleich zwei furchtbare Frauen auf sie abgesehen. Das Gesicht des Mädchens bekommt immer mehr Kratzer ab. Verletzt es sich selbst? Der Zuschauer weiß mehr über die Erscheinungen und die Ängste des Mädchens als die Kommissarinnen. Und er weiß: Es gibt keine Gespenster, im „Tatort“ schon gar nicht – und doch zuckt man immer wieder zusammen. Auf der Zielgeraden gesellt sich dann noch klassischer Krimi-Suspense zum Grusel-Feeling. Und dies – wie so Vieles in diesem Film – in wirkungsvoller Parallelschaltung: Während Winkler das Haus der toten Seelen zu entzaubern versucht, durchstöbert Gorniak ein Haus des alltäglichen Schreckens. Und dann geben Marka und Yesilkaya, die schon sechs kleine „Tatort“-Meisterwerke („Es lebe der Tod“, „“Die Wahrheit“, „Meta“) gemeinsam geschaffen haben, dem Zuschauer eine Ahnung davon, was es heißt, etwas zu sehen, das in Wahrheit gar nicht vorhanden ist. Der Film realisiert quasi die (Vor-)Ahnung des Zuschauers – und sorgt vorübergehend für einen Schock. Ob dieser dramaturgische Meta-Effekt vom Zuschauer verstanden wird, ist allerdings eher zu bezweifeln. Die meisten werden die erlebte Irritation am Ende wohl eher dem Film anlasten.

„Es geht in diesem ‚Tatort‘ um Verdrängung, die sich zwar mysteriös äußert, aber der Zuschauer soll mitfühlen und die Situation nachempfinden können. Deshalb habe ich den Film natürlich gestaltet. Die Inszenierung, das Licht, der Look, all das sollte sich echt anfühlen und dem wahren Leben entsprechen.“
(Sebastian Marka, Regisseur)

Tatort – ParasomniaFoto: MDR / MadeFor / Daniela Incoronato
Die Kammer des Blutes. Hochspannung gegen Ende: Auf der Zielgeraden heißt es Bangen um Leonie Winkler (Cornelia Gröschel in ihrem bislang stärksten „Tatort“).

Vergessen und Verdrängen, das psychologische Movens des Films, spielt in der Narration von „Parasomnia“ auch noch eine politische Nebenrolle. „Im Sozialismus gab es keine Serienmörder, keine Psychopathen, keine Kapitalverbrecher“, betont Schnabel. Gemeint ist natürlich: Durfte es nicht geben. Akten zu solchen Fällen wurden von der Stasi unter Verschluss gehalten. Da der aktuelle Fall mit einem Mord von 1989 korrespondiert, müssen sich er und Gorniak nun durch die stählernen Aktenschränke des Stasi-Archivs wühlen. „Wir Deutschen lieben es ja zu vergessen, da sind wir die größten Meister drin‘“, werden sie vom  Archivar begrüßt. „Hier kommt nüscht weg, hier wird nichts vergessen.“ Die Erinnerung des Mädchens hilft schließlich, Licht ins Dunkel eines weiteren Verbrechens zu bringen.

Apropos dunkel: Kameramann Willy Dettmeyer geht an die Grenze des im Fernsehen Mach- und Erkennbaren. Das schafft Atmosphäre und Spannung, hat aber sicher auch damit zu tun, dem Film keine unnötigen Schnitte zumuten zu wollen. Der Last-Minute-Rescue-Schluss wirkt zwar elegant, sieht aber aus wie eine für den „Tatort“ entschärfte Version eines Finales, dem Netflix & Co auch in einer FSK-12-Produktion sicherlich einen Splatter-Effekt mitgegeben hätten. In einem Jahr mit einem eher überschaubaren Angebot an Ausnahme-„Tatorten“ ist dieser auf jeden Fall einer der besten. Die Handlung ist auf ein psychologisches Phänomen und die Dramaturgie auf das Wesentliche reduziert. Gleiches gilt für die Inszenierung. Bis auf die Farbeimer orientiert sich die Optik an den Gegebenheiten der dunklen Jahreszeit. Grautöne und das Schwarz der schlaflosen Nächte dominieren. Umso deutlicher nimmt man die mimischen Ausdrucksnuancen wahr. Karin Hanczewskis markante Züge passen zum kargen Herbstambiente, während Cornelia Gröschel stärker die Herz-Note ins Spiel bringen darf, ernsthaft und angenehm zurückgenommen: ihr bisher bester Auftritt im „Tatort“ Dresden. Emotional getragen wird der Film allerdings von Hannah Schiller (20) in ihrer zweiten Hauptrolle. Mit ihren großen Augen durchlebt man den Horror dieses Hauses – in einem Film, den man so schnell nicht vergessen wird. (Text-Stand: 12.10.2020)

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Reihe

MDR

Mit Karin Hanczewski, Cornelia Gröschel, Hannah Schiller, Wanja Mues, Martin Brambach, Anne-Kathrin Gummich, Rainer Reiners, Jonas Fürstenau, Franziska Junge, Hans Klima, Jürgen A. Verch, Thomas Dehler

Kamera: Willy Dettmeyer

Szenenbild: Dorothee von Bodelschwingh

Kostüm: Sonja Hesse

Schnitt: Stefan Blau

Musik: Thomas Mehlhorn

Redaktion: Sven Döbler

Produktionsfirma: MadeFor Film

Produktion: Nanni Erben

Drehbuch: Erol Yesilkaya

Regie: Sebastian Marka

Quote: 7,85 Mio. Zuschauer (21,6% MA)

EA: 15.11.2020 20:15 Uhr | ARD

Spenden über:

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