Tatort – Neugeboren

Jasna Fritzi Bauer, Dar Salim, Luise Wolfram. Cooles Dreigestirn ohne Klischees

Foto: RB / Christine Schroeder
Foto Thomas Gehringer

Das ist mal ein vielversprechender Start für ein neues, klasse besetztes „Tatort“-Team: Mit dem Krimidrama „Neugeboren“ (Degeto, RB / Bremedia) geben Jasna Fritzi Bauer und Dar Salim ihren Einstand in Bremen. Luise Wolfram, die schon zuvor neben Sabine Postel und Oliver Mommsen zu sehen war, rückt auf Augenhöhe. Wie dieses Trio in seinem ersten Fall zusammenfindet und trotz – oder gerade wegen – seiner Gegensätze zunehmend harmoniert, ist beste Unterhaltung. Auch die filmische Umsetzung des Milieu-Stoffs am Rande der Stadt um ein verschwundenes Baby und einen getöteten Drogendealer (Buch: Christian Jeltsch) überzeugt. Regie (Barbara Kulcsar), Kamera und Musik erzeugen eine intensive, lebensnahe Atmosphäre. Dieses Team geht hinaus in die Wirklichkeit – da geht man gerne mit.

Bremen, bei Nacht. Eine Schlägerei zwischen zwei Männern im strömenden Regen. Eine schwangere Frau bringt in ihrer Wohnung ohne Hilfe ihr Baby zur Welt. Ein junger Mann rennt zur Weser und wirft irgendwas ins Wasser. Ein anderer sitzt hoch oben über der Stadt und blickt herab auf die glitzernden Lichter. Dazu kraftvoll atmosphärische Musik und die ruhige Stimme von Jasna Fritzi Bauer, die aus dem Off ein bisschen altklug philosophiert: „Dass es sich wendet, ein ganzes Leben, um 180 Grad, in einem einzigen Moment, das kommt vor, gar nicht so selten. Bei Mord immer. Nur geht’s dann nicht nur um ein Leben.“ Düster, sprunghaft und stimmungsvoll geht es los mit dem neuen Bremer „Tatort“, dessen erster Fall mit dem doppeldeutigen Titel „Neugeboren“ in einem Hochhaus-Block am Rande der Stadt spielt, bewohnt von Menschen am Rande der Gesellschaft: Ein Ex-Fußballer, der sich mit Alkohol betäubt. Junge Männer, die in Drogenkonsum flüchten. Junge Frauen, die Kinder kriegen, weil Babys ein Statussymbol sind. Die Kamera von Filipp Zumbrunn erzeugt das Gefühl von Intensität und Lebensnähe, aber „Neugeboren“ erhebt keinen Zeigefinger. Es werden keine Botschaften formuliert oder Zustände verurteilt. Es werden „nur“ Geschichten aus einem prekären Milieu erzählt, von Menschen, die darauf hoffen, „dass es sich wendet, ein ganzes Leben“. Oder die diese Hoffnung schon aufgegeben haben.

Tatort – NeugeborenFoto: RB / Christine Schroeder
Die eigenwillige BKA-Ermittlerin Linda Selb (Luise Wolfram) kann mitunter ihr Mundwerk auch mal im Zaum halten und etwas einfühlsamer befragen – etwa eine junge Mutter (Morgane Ferru), deren Baby offenbar entführt wurde. Rona Özkan

Wie sich zeigt, passt das neue Bremer Trio ausgezeichnet in diese Art „Tatort“ mit seinen rauen, ungeschönten Bildern und Figuren. Die junge Liv Moormann (Jasna Fritzi Bauer) aus Bremerhaven trifft am Morgen in einer nervösen, von Sirenengeheul und Polizei-Durchsagen aufgeschreckten Stadt ein. Die Suchaktion nach einem verschwundenen Baby sorgt dafür, dass Moormann noch vor dem Vorstellungsgespräch die erste Chance zur Bewährung erhält. Denn nun wird auch noch ein Toter gemeldet: ein junger Mann, der offenbar aus großer Höhe von einem leerstehenden Gebäude stürzte. Wobei Moormann die Chance eher eigenmächtig ergreift, gegen den Willen von Kommissariatsleiter Rolf Harmsen (Christian Aumer). Der hatte Mads Andersen (Dar Salim) gebeten, seine geplante Abreise nach Kopenhagen zu verschieben und sich des neuen Falls anzunehmen. Die hartnäckige, unerschrockene Neue mit dem schiefen Lächeln und der freundliche, etwas geheimnisvolle Cop aus dem Ausland mit den originellen Wortschöpfungen („Der Tod ist eben hinterlustig“) beschnuppern sich, geben aber schon bei den ersten Ermittlungen ein unkompliziert wirkendes Team ab.

Der dänische, ehemalige Undercover-Ermittler Andersen musste, wie man später erfährt, aus Sicherheitsgründen seine Heimat verlassen und bei der Bremer Polizei anheuern. Nun kann er offenbar wieder heimkehren, bleibt aber erst mal mit gepackten Koffern hängen. Andersen ist ein ruhiger, professioneller, manchmal beinahe gelangweilt wirkender Typ, der andere machen lässt und nur eingreift, wenn es nötig ist. Dann aber richtig. Dass der dänische Serien- und Kino-Star Dar Salim („Borgen“, „Game of Thrones“, „Killing Mike“, „Darkland“) verpflichtet werden konnte, ist ein echter Coup, der ausgerechnet dem „Tatort“ der kleinen ARD-Anstalt Radio Bremen internationales Flair verleiht. Dar Salim hatte bereits 2014 eine Episodenrolle im Bremer „Tatort – Brüder“ übernommen. Da war er, wie so oft, der finstere Bösewicht arabischer Abstammung. In „Neugeboren“ spielt er einen erfahrenen Ermittler, der zumindest in einer Szene erkennen lässt, dass er auch einige Erfahrung im Nahkampf besitzt, aber nicht erpicht darauf ist, sie anzuwenden.

Tatort – NeugeborenFoto: RB / Christine Schroeder
Gescheiterte Existenz, passendes Outfit: Rudi Stiehler (André Szymanski), der seiner zu kurzen Fußballerkarriere nachtrauert, hofft auf eine bessere Zukunft mit seiner Tochter Jessica (Johanna Polley) und ihrem Baby. Das Klein-Kind als Sinn-Ersatz.

Das Verhältnis im Ermittler-Trio ist trotz des dänischen Stars ziemlich ausgewogen, ohnehin konnte ja mit Jasna Fritzi Bauer („Rampensau“) auch eine populäre Jung-Schauspielerin für den „Tatort“ gewonnen werden. Sie ist hier in ihrer Paraderolle als freche, unterschätzte junge Frau zu sehen, die sich im Handstreich den Respekt ihrer Umgebung sichert. Bauers Energie, Salims Coolness und dazu die eigenwillige, unverblümte Art, mit der Luise Wolfram die aus dem Bremer „Tatort“ bereits bekannte BKA-„Wunderwaffe“ Linda Selb spielt – das ist eine kontrastreiche Mischung, bei der gleich beim ersten Aufeinandertreffen die Funken sprühen. Wie sich das Trio miteinander vertraut macht, ist beste Unterhaltung, auch dank der pointierten Dialoge. Selb nennt die Neue aus Bremerhaven anfangs despektierlich die „Mini-Maus“, die es in der Mordkommission nicht lange aushalten werde. Aber es kommt weder zum Zicken-Krieg noch zum Geschlechterkampf zwischen zwei selbstbewussten Frauen und einem breitbeinigen Macho – schön, dass die üblichen Klischees vermieden werden.

Tatort – NeugeborenFoto: RB / Christine Schroeder
Auf den Straßen von Bremen. „Neugeboren“ von Barbara Kulcsar („Tödliche Geheimnisse – Das Versprechen“, „Tatort – Rebland“) besticht durch einen stimmigen, nie überzogenen Realismus mit viel Handkamera. Während die Verdächtigen mitunter etwas Getriebenes oder zumindest eine (wohl sozial bedingte) Sprunghaftigkeit an den Tag legen, vermitteln die Kommissare, insbesondere Mads Andersen (Dar Salim), der offenbar vollkommen in sich ruht, eine angenehme Entspanntheit & Souveränität.

Tatsächlich sind sich die beiden Frauen auch ein bisschen ähnlich: Liv Moormann ist sichtlich erfreut, dass sie es gleich mit einem Mordfall zu tun bekommt. Die etwas wunderliche Linda Selb wünscht sich sogar einen Täter, „der einen so richtig fordert“, am liebsten „einen Serienkiller, der das ganze Land in Angst und Schrecken versetzt“. Selb ist auch deshalb eine interessante Figur, weil sie über den Dingen zu schweben scheint und sich mal hier, mal dort einmischt, ohne dass irgendwelche Kompetenzen eine besondere Rolle spielen. Sie kümmert sich um die verzweifelte Mutter (Morgane Ferru), deren Baby im Krankenhaus verschwunden ist, und rüffelt die junge Polizistin (Rona Özkan), die der Mutter übereifrig verspricht, man werde das Baby lebendig zurückbringen. Gleichzeitig taucht sie am Tatort auf, um Spuren zu sichern und den Mord-Ermittlern auf die Finger zu schauen.

Jannik Waltz (Raffael Armbruster) hat sich nicht selbst in die Tiefe gestürzt, sondern wurde durch Messerstiche getötet. Das ungleiche Duo Andersen und Moormann erkundet das Umfeld des Opfers, der in einer Hochhaussiedlung lebte, Drogen verkaufte und ein Kind mit der jungen Rena (Leonie Wesselow) hatte. Allerdings war Jannik auch mal mit Jessica Stiehler (Johanna Polley) liiert, die gerade ihr Kind ohne Hilfe zur Welt brachte. Jessica will den Namen des Vaters nicht verraten – auch nicht ihrem eigenen Vater Rudi (André Szymanski), bei dem sie lebt und der sich nach gescheiterter Fußball-Karriere regelmäßig in den Alkohol flüchtet. Jessicas Bruder Marco (Gustav Schmidt) hat sich über die Schwangerschaft gefreut, weil sie Stabilität ins Leben seiner Schwester und seines Vaters brachte, wie er sagt. Gleichzeitig ist er mit den Brüdern Lenny (Nikolay Sidorenko) und Tim Maurer (Bruno Alexander) befreundet, die zu Janniks Kunden gehörten. „Neugeboren“ bietet einen verwickelten, manchmal etwas konstruiert wirkenden Kriminalfall und überzeugt vor allem als Milieu-Drama mit hoher Intensität und einem lebensnahen Look. (Text-Stand: 1.5.2021)

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Reihe

ARD Degeto, RB

Mit Jasna Fritzi Bauer, Dar Salim, Luise Wolfram, Johanna Polley, André Szymanski, Gustav Schmidt, Bruno Alexander, Nikolay Sidorenko, Leonie Wesselow, Morgane Ferru, Rona Özkan, Raffael Armbruster, Christian Aumer

Kamera: Filip Zumbrunn

Szenenbild: Dorle Bahlburg

Schnitt: Gion-Reto Lilias

Musik: Jasmin Shakeri und Beathoavenz

Casting: Suse Marquardt Casting Berlin

Redaktion: Thomas von Bötticher (RB), Birgit Titze (Degeto)

Produktionsfirma: Bremedia

Produktion: André Zoch, Stefan Sporbert

Drehbuch: Christian Jeltsch

Regie: Barbara Kulcsar

Quote: 8,41 Mio. Zuschauer (25% MA)

EA: 24.05.2021 20:15 Uhr | ARD

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