Das vermeintliche „Paradies“ befindet sich hinter einer unscheinbaren Tür in einem schmuddeligen, Bunker-ähnlichen Frankfurter Gemäuer mit Tiefgarage. Das sollte eigentlich Warnung genug sein, aber die hier versammelten Menschen sind im rauschhaften Zustand, nicht nur wegen der Drogen, sondern auch weil sie sich in einem exklusiven Event wähnen. Die Party ist ein Geheimtipp unter Bankern: Nur wer das Passwort und die genaue Ortsangabe kennt, was kurz vor Beginn telefonisch übermittelt wird, darf dabei sein. Logisch ist die Sache nicht, denn einen wechselnden Schauplatz kann es jedenfalls für das „Paradies“ eigentlich nicht geben. Auch die Ekstase, die der Tanz von Ruby Kortus (Ioana Bugarin) auslöst, erscheint reichlich übertrieben.
Foto: HR / Bettina Müller
Vergessen Sie’s, das sind nur Einwände, die man erheben könnte, wenn hier ein „Tatort“ der gewöhnlichen Sorte erzählt werden würde. Aber „Murot und das Paradies“, mit dem der Hessische Rundfunk das Dutzend voll macht in der Reihe mit Ulrich Tukur als LKA-Kommissar Felix Murot und seiner kongenialen Kollegin Magda Wächter (Barbara Philipp), ist surreal und futuristisch, auf bizarre Weise komisch, kräftig gewürzt mit Film-Zitaten sowie einfachen psychologischen und philosophischen Weisheiten. Autor und Regisseur Florian Gallenberger („Der Überläufer“, „John Rabe“, „Schatten der Zeit“, „Es ist nur eine Phase, Hase“, Kurzfilm-Oscar 2001 für „Quiero ser“), derzeit Präsident der Deutschen Filmakademie, legt ein „Tatort“-Debüt hin, das in Erinnerung bleiben wird. Wobei er durchaus an die Tradition der Murot-Reihe anknüpft: Auch Gallenbergers filmische Reise führt wieder ins Innenleben des Kommissars, der sich gerade in einer tiefen Lebenskrise befindet und umso anfälliger dafür ist, endlich seine Wünsche ausleben zu dürfen. Gallenbergers Inszenierung ist erotisch stark aufgeladen, aber wer nun Schlimmes befürchtet, sei beruhigt: Murot beim Sex wird nicht serviert, auch wenn die leicht bekleideten Auftritte von Ioana Bugarin und verschiedene Vagina-Modelle, in Gipsform gegossen oder als Cupcake gebacken, durchaus umfangreich auf das Begehren heterosexueller Männer anspielen.
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Aber der Reihe nach: Murot liegt auf der Couch des Psychologen Dr. Wimmer (Martin Wuttke) und will gerade von einem Traum erzählen, in dem er sehr glücklich gewesen sei, als sein Smartphone klingelt. Die Ironie ist offensichtlich: Immer kommt dem privaten Glück der Fernseh-Kommissare irgendein Leichenfund dazwischen. Und immer nervt die überhebliche Pathologin, nörgelt Murot auf dem Weg zur Rechtsmedizin – eine Szene, die man wegen der schönen Schlusspointe im Gedächtnis behalten sollte. Eva Mattes spielt angemessen humorlos die Koryphäe „Dr. Dr. Kispert“, die bei der Leiche der jungen, verdursteten Investmentbankerin zwar keine Spuren von Gewalt, aber eine seltsame Spalte im Bauch gefunden hat. Dem Opfer wurde der Bauchnabel herausoperiert und stattdessen ein Implantat eingesetzt, „um jemanden sozusagen andocken zu können“ (Kispert). Schon bald wird auf ihrem Tisch eine zweite, diesmal männliche Investmentbanker-Leiche liegen. Der Mann hatte ein betrügerisches Aktiengeschäft getätigt, um endlich einen Termin im „Paradies“ zu bekommen. Er verhielt sich wie ein Junkie, dem der Stoff ausgegangen ist.
„Es gibt keine unglücklicheren Menschen als die Banker“, behauptet die Herrscherin im „Paradies“, die logischer Weise Eva heißt – eine verführerische Rolle wie geschaffen für Brigitte Hobmeier, die immer in unschuldiges Weiß gehüllt ist, während ihre roten Haare und die knallrot geschminkten Lippen das Gegenteil verheißen. Die Männer dagegen sind süchtig nach dem (weiblichen) Glücksversprechen, schlummern nackt in mit bläulich-kalt schimmerndem Wasser gefüllten Becken, verbunden durch eine Nabelschnur und durch am Kopf angebrachte Sensoren mit einem Apparat, der ihre schönsten Erinnerungen und Träume ganz real erscheinen lässt, beginnend beim Nuckeln an der Mutterbrust. Der Mensch als biologisch programmiertes, aber auch verführbares, manipuliertes Wesen – das surreal-religiöse Szenario knüpft an aktuelle Debatten über Geschlechterrollen und Künstliche Intelligenz, Verschwörungserzählungen sowie auf der ästhetischen Ebene an Bilderwelten aus Außerirdischen- und Science-Fiction-Filmen an.
Foto: HR / Bettina Müller
Höhepunkte sind allerdings die Murot’schen Glücksträume, die hier von Gallenberger als eigenständige Film-im-Film-Miniaturen inszeniert werden. Der LKA-Kommissar, der im realen Leben zusehends verwahrlost, sieht sich im Traum als historische Retterfigur, als von Eva bewunderter Ehemann und als mutiger Astronaut in einem Zitat des Stanley-Kubrick-Klassikers „2001 – Odyssee im Weltraum“. Während es im Weltall „An der schönen blauen Donau“ walzert und Murot so durch die Schwerelosigkeit schwebt, taucht ein altertümliches Mobilfunkgerät auf. Als es klingelt, meldet sich eine weibliche Stimme. „Du bist Gott“, mutmaßt Murot. „Wenn du mich so nennen willst“, antwortet die Anruferin, die stark nach Eva klingt. Damit schließt sich der Kreis, denn der Glückstraum, von dem Murot zuvor dem Psychiater erzählt hatte, erfüllt sich. Er habe zwar die Nummer Gottes gehabt, berichtete Murot auf der Couch, aber: „Er ist nicht rangegangen.“ Dass Murot in einem anderen Traum Papst war „und den ganzen Laden einfach dicht gemacht“ hat, bleibt nur Erwähnung.
Mit starken Bildern und philosophischem Witz ist „Murot und das Paradies“ ein kurzweiliges Vergnügen. Die ruhigen Gespräche zwischen dem Kommissar und dem Psychiater strukturieren und erden das futuristische Geschehen, ohne sich in allzu abgehobene Höhen zu schrauben. Nach einer Logik im Sinne „realistischer“ Krimi-Muster zu suchen, ist natürlich zwecklos. So bleibt die auf die beiden Frauenfiguren reduzierte „Stiftung“, die mit der Glückssehnsucht ein einträgliches Geschäft betreibt, nur eine Metapher und bedient nicht den Wunsch nach ordnungsgemäßer Krimi-Aufklärung. Dennoch inszeniert Gallenberger am Ende eine Art von Showdown, in der die wackere Wächter mal wieder ihren Chef retten muss. Schon die kalte, schmucklose Ausstattung signalisiert: Das eigentliche „Paradies“ liegt im Menschen selbst, in der eigenen Phantasie. Hübsch auch die Idee mit der besonderen Funktionsweise der Toilette. Erstaunlich konventionell dagegen die finale Szene beim Psychiater, bei der Murot mit Blick in die Kamera eine Botschaft zu Protokoll gibt: „Es war das perfekte Glück. Aber wissen Sie was: Dafür sind die Menschen nicht gemacht. Das ist die Hölle. Wir brauchen die unerfüllten Wünsche, den Mangel, die Sehnsucht. Ja, ich glaube, wir brauchen das Unglück, um überhaupt glücklich sein zu können.“ (Text-Stand: 2.10.2023)