Tatort – Murot und das 1000-jährige Reich

Ulrich Tukur, Philipp, Simon, Oberg. Die Nazis, ein Dorf & eine Doppelrolle für Tukur

Foto: HR / Bettina Müller
Foto Thomas Gehringer

„Tatort“-Rücksturz in die Vergangenheit: Im Frühjahr 1944 landen ein Sonderermittler der Polizei und sein strammer Nazi-Adjutant in einem Dorf, in dem vier deutsche Soldaten und ein mit seiner Maschine abgestürzter englischer Pilot erschossen aufgefunden werden. Ulrich Tukur spielt in „Murot und das 1000-jährige Reich“ (ARD / Hessischer Rundfunk) den Sonderermittler, während er 80 Jahre später als Kommissar Felix Murot am Flughafen auf einen greisen Nazi-Verbrecher wartet, um doch noch späte Gerechtigkeit walten zu lassen. Autor und Regisseur Matthias X. Oberg und seine Co-Autoren versetzen den „Tatort“ ohne fantastische Zeitreise-Verrenkungen zurück in die Vergangenheit. Keine schlechte Idee, von Nazi-Terror und Spionage im vorletzten Kriegsjahr in einem abgelegenen Dorf zu erzählen. Aber nicht nur angesichts der zahlreichen Spielfilme zum Nationalsozialismus wirkt dieser TV-Krimi eher unterkomplex und auch nicht übermäßig spannend.

Die Filme mit Felix Murot als Kommissar gehören zweifellos zu den schrägsten und fantasievollsten Episoden der „Tatort“-Reihe. Da verwundert es nicht sonderlich, wenn Ulrich Tukur plötzlich als Sonderermittler in der Nazi-Zeit auftaucht. Überraschend ist eher, dass Matthias X. Oberg (Regie & Koautor) sowie Michael Proehl & Dirk Morgenstern (Buch) eine vergleichsweise konventionelle Kriegs- und Spionage-Geschichte erzählen. Murots Fantasien kannten zuletzt in „Murot und das Paradies“ keine Grenzen: Unter anderem erschoss der Kommissar in einem seiner Glücksträume den Führer. Diesmal bricht Oberg vergleichsweise moderat mit dem üblichen „Tatort“-Realismus. Neben Tukur tritt zwar auch Barbara Philipp, die seit jeher Murots LKA-Kollegin Magda Wächter spielt, im Frühjahr 1944 in Erscheinung – als jüdische Ärztin aus Frankfurt, die vor Krieg und Verfolgung aufs Land geflohen ist. Murot und Wächter sind jedoch keine Zeitreisenden, Tukur und Philipp spielen eigenständige Figuren in der Vergangenheit. In der Gegenwart warten sie als Murot und Wächter am Flughafen darauf, einen Nazi-Täter, der ihnen vor Jahrzehnten durch die Lappen ging, endlich festnehmen zu können. In der schönen Schlusspointe schlägt Oberg noch einmal die Brücke in die Vergangenheit, die – zum Erschrecken des Täters – keineswegs vergessen ist. Man darf den Film wohl auch als Kommentar verstehen, dass es noch heute richtig ist, die Mörder zur Rechenschaft zu ziehen, auch wenn sie alt und gebrechlich sind.

Tatort – Murot und das 1000-jährige ReichFoto: HR / Bettina Müller
Der 13. „Tatort“ mit Felix Murot ist mal wieder aus Zeit und Raum gefallen. Der ganz große Wurf ist dem HR diesmal allerdings nicht gelungen. Dafür besticht der Film durch sein kleines, feines Ensemble: u.a. Melanie Straub und Cornelius Obonya.

Wer da im Flugzeug sitzt, verrät der Regisseur gleich zu Beginn, indem er fließend vom Gesicht des Alten aufs Gesicht des Jungen blendet. Damit geht leider auch ein Teil der Spannung verloren, allerdings ist ohnehin von Anfang an klar, wer hier der Bösewicht ist. Ludwig Simon spielt einen eiskalten, milchgesichtigen Überzeugungstäter: den Adjutanten von Strelow, die rechte Hand von Sonderermittler Friedrich Rother (Ulrich Tukur). Der Nazi-Schurke ist ein junger Mann auf der Suche nach einer „Vaterfigur, der seine Brillanz anerkennt“, wie Rother kühl und verächtlich analysiert. Psychologische Deutungen von Nazi-Tätern haben immer etwas Fragwürdiges, weil die menschenverachtende Ideologie in den Hintergrund gerät. Wird von Strelow aus Kränkung über die Zurückweisung der Vaterfigur zum Mörder? Vielleicht, aber jedenfalls auch aus eigenem Antrieb und aus Überzeugung. Rother ist dennoch die interessantere, weniger leicht zu durchschauende Figur. Tukur gibt den Ermittler des Jahres 1944 nicht als zeitversetzte Kopie des häufig mit sich selbst beschäftigten Murot, sondern als dauerqualmenden Polizisten, der über den Dingen zu schweben scheint und die Nazi-Sprüche seines Adjutanten lässig kontert. Rother trägt keine Uniform, ist ein guter Beobachter und offenbar frei von ideologischen Scheuklappen, jedenfalls zu einem Zeitpunkt, als er das unvermeidliche Ende des „1000-jährigen Reichs“ bereits kommen sieht. Gerne provoziert er mit mehrdeutigen Sprüchen, und einmal spielt er auf dem Klavier ein englisches Schmählied auf die Deutschen. Über seine Vorgeschichte wird nichts erzählt, insofern bleibt Rother – auch dank des vieldeutigen Spiels von Tukur – eine weitgehend offene Projektionsfläche. Die herausgehobene Stellung eines Sonderermittlers lässt freilich auf eine beachtliche Karriere bei der Polizei schließen, die während der Nazizeit ohne Beteiligung an Verbrechen oder wenigstens dem Ignorieren von staatlicher Willkür und Gewalt nicht vorstellbar ist. Auf historische Exkurse wird hier jedoch verzichtet. Über die diskussionswerte Figur zu urteilen, bleibt dem Publikum überlassen.

Grundsätzlich interessant ist der Schauplatz: Das Dorf, in dem Rother und von Strelow stranden, weil ihr Wagen repariert werden muss, scheint weit entfernt von Krieg und nationalsozialistischem Terror. Nun aber stürzt in der Nähe ein englisches Flugzeug ab. Der Pilot hat wichtige Unterlagen über die Pläne zur Invasion der Alliierten dabei, wird aber in einer kleinen Kapelle tot aufgefunden. Die Unterlagen sind verschwunden. Außerdem scheinen sich vier Wehrmachtssoldaten gegenseitig über den Haufen geschossen zu haben. Überlebt hat nur ihr Gefangener (Marius Ahrendt), der Rother und von Strelow verschiedene Versionen des Geschehenen auftischt. Neben Tukur, Philipp und Simon wurde ein kleines, zum Teil feines Ensemble für weitere Nebenrollen engagiert, darunter Cornelius Obonya als ehemaliger Philosophie-Professor und Schach spielender Dauer-Gast in der „Ochsen“-Wirtschaft sowie Imogen Kogge als Gastwirtin. Sympathisch ist ja, dass hier ohne bombastischen Aufwand und historisches Pathos, die manche Filmdramen und Serien über den Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus prägen, im kleineren Rahmen eines Fernsehkrimis über die Zeit erzählt wird, konzentriert auf ein Dorf und den begrenzten Zeitraum eines Kriminal- und Spionagefalls mit potenziell weitreichenden Auswirkungen. Dennoch leuchtet die Idee nur bedingt ein: Historische TV-Dramen wie zum Beispiel der Zweiteiler „Landgericht“ dringen in ganz andere Tiefen vor, und für einen Krimi ist es mit der Spannung dann doch nicht allzu weit her. (Text-Stand: 30.8.2024)

Tatort – Murot und das 1000-jährige ReichFoto: HR / Bettina Müller
Tukur gibt den Ermittler des Jahres 1944 nicht als zeitversetzte Kopie des häufig mit sich selbst beschäftigten Murot, sondern als dauerqualmenden Polizisten, der über den Dingen zu schweben scheint und die Nazi-Sprüche seines Adjutanten lässig kontert.

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HR

Mit Ulrich Tukur, Barbara Philipp, Ludwig Simon, Cornelius Obonya, André Meyer, Melanie Straub, Imogen Kogge, Nicole Viola Hinz, Marius Ahrendt, Sebastian Schulze, Florian Appelius, Elias Grünthal, Kevin Silvergieter

Kamera: Max Preiss

Szenenbild: Manfred Döring

Kostüm: Iris Arasimavicius

Schnitt: Stefan Blau

Musik: Simon Rummel, Bertram Denzel

Redaktion: Jörg Himstedt

Produktionsfirma: Hessischer Rundfunk

Produktion: Ulrich Dautel

Drehbuch: Michael Proehl, Matthias X. Oberg, Dirk Morgenstern

Regie: Matthias X. Oberg

Quote: 6,53 Mio. Zuschauer (23,9% MA)

EA: 20.10.2024 20:15 Uhr | ARD

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