Leitmayr (Udo Wachtveitl) und Batic (Miroslav Nemec) sind nicht gerade begeistert von dem, was sich Kalli (Ferdinand Hofer) da als Weihnachtsfeier-Überraschung ausgedacht hat: ein Krimi-Dinner unter Freunden – und sie mittendrin als Ermittler. Und weil die Münchner Gegenwart so grau und langweilig ist, wurde die Mördersuche verlegt auf das altehrwürdige Anwesen Beckford Hall, auf dem die verwitwete Lady Mona Bantam (Sunnyi Melles) ein strenges Regiment führt. Auch hier ist Weihnachten, man schreibt das Jahr 1922. Und der Mörder ist nicht der Butler, nein, Arthur Rogers (Christoph Rogers), der seiner Herrin in jeder Hinsicht stets zu Diensten war, ist der Gemeuchelte. Bei der spitzzüngigen Mylady eingefunden haben sich neben ihrem schnöseligen Sohn Charles (Ferdinand Hofer) dessen Ex-Verlobte, die Sängerin Kitty (Katharina Schlothauer), der Arzt, Alkoholiker und Salonsozialist Dr. Mallard (Alexander Hörbe) und der Reverend Edgar Teal (Joshua Jaco Seelenbinder), der im Angesicht liebreizender Damen schon mal seine göttliche Berufung vergisst. Verdächtig sind sie alle. Und alle hätten auch einen guten Grund gehabt, diesem offenbar so boshaften, gierigen und arroganten Butler an die Gurgel zu gehen. Ja, sogar für das unbedarfte Hausmädchen Heather (Marie Rathscheck) lässt sich ein Mordmotiv ermitteln.
Foto: BR / Hendrik Heiden
Der „Tatort“ auf den Spuren von Agatha Christie. Ein Toter. Einige wenige Verdächtige. Die Einheit von Raum, Zeit und Handlung. Zwar viel Dialog in einer verspielt antiquierten Sprache: diese aber nicht einfach nur so dahingesagt. „Mord unter Misteln“ wirkt im Rahmen des ARD-Krimiflaggschiffs im Jahre 2022 wie eine Innovation, obwohl sich der Film von Jobst Christian Oetzmann (Grimme-Preis für den BR-„Tatort – Im freien Fall“) und Autor Robert Löhr („Das Institut – Oase des Scheiterns“) auf eine der ältesten Krimi-Traditionen beruft. Als Fernsehfiktion noch nicht die Emotion als Hauptsinn & Zweck ausgegeben hatte, stand das telegene Mörderraten ganz oben in der Publikumsgunst. Man hing dem Übervater „Kommissar“ Keller an den Lippen und schaute ganz genau hin bei „Dem Täter auf der Spur“, jener Krimireihe, die das Mitraten als Quiz in das Spielfilm-Format einbaute. Bei Kritikern und vielen Zuschauern geriet der Whodunit spätestens in den 2000er Jahren in Verruf, als durch die Inflation der schnell zu produzierenden Krimiserien dieses simple dramaturgische Muster deutlich überstrapaziert wurde. Die 90minütigen Krimi-Reihen mussten sich endlich raffiniertere Erzählstrategien einfallen lassen. Auf dieser Rezeptionsgrundlage lässt sich „Mord unter Misteln“ fast schon wieder als ein „Experiment“ sehen: ein Bruch mit den psychologischen Krimi-Dramen und vor allem mit dem zunehmend auf Thriller-Elemente setzenden Krimi-Reihen der letzten zehn, fünfzehn Jahre. Die Kommissare in historischen Gewändern mit Vollbart, Vintage-Pfeife und moderat altertümlicher Rhetorik („Sie alle haben zunächst als verdächtig zu gelten“) – das hat schon was. Im Rahmen der Reihe sind die Münchner Silberlocken mit ihren 32 Dienstjahren ja selbst schon eine historische Größe
Der besondere Reiz dieser erfrischend altmodischen Krimierzählung ist der Salonstück- und Ensemble-Gedanke. Die Verdächtigen kommen nicht sukzessive ins Spiel, wie das in den ideenlosen Whodunit-Gegenwartskrimis häufig der Fall ist, sondern alle potenziellen Mörder geben sich von Beginn an die Ehre. Die Zuschauer:innen erhalten Einblicke in die Gruppendynamik dieser erwartungsgemäß gar nicht so feinen Gesellschaft, und einige Beziehungen entpuppen sich als maximal problembelastet – heute würde man sagen: toxisch. Machtspielchen zwischen dem Sohn des Hauses und seiner Verflossenen hier, dezente amouröse Anbahnungsversuche zwischen dem Geistlichen und der Kammerzofe dort, und im Zentrum die ebenso resolute wie zynische Dame des Hauses, die sich vom Testosteron-gesteuerten Butler vor dessen Ableben gern beglücken ließ. Doch der wollte auch vom Zimmermädchen nicht lassen und erpresste sie mit Nacktfotographien… Viel verbalisierter Plot inklusive Backstorys, Klischee-Konstellationen und wenig Psychologie – das gehört zum typischen Agatha-Christie-Touch. Dafür dosiert Drehbuchautor Löhr das Ganze mit einer Prise Komik, die sich mitunter als Ironie und Sarkasmus auslebt („In Sachen Tauglichkeit hat’s leider den Falschen erwischt“). Auch ein bisschen Selbstreferentialität kann in so einem Szenario nicht schaden: Anmerkungen wie „Hier sieht’s ja aus wie bei Rosamunde Pilcher“ oder „Ich schau eigentlich nur ‚Tatort‘ oder mal ‚Polizeiruf‘“ kommen allerdings über Gag-Charakter nicht hinaus. Recht amüsant erscheint hingegen, dass die „Detectives“ mitunter aus ihren Rollen fallen und sich in den typischen Animositäten zwischen Franz und Ivo stur & eitel verheddern. So entstehen kleine Brüche und ein dezentes Spiel mit den Rollenklischees der Münchner Buddys, das launig ist, aber dem die Schauspielkunst mitunter Grenzen setzt.
Foto: BR / Hendrik Heiden
Die Episoden-Darsteller haben leichteres Spiel. Denen nimmt man die klischeehaft pointierten Charaktere problemlos ab. Ferdinand Hofer, der sich in diesem Krimi-Dinner emanzipieren darf, passt bestens ins Ambiente. Theaterschauspielerin Sunnyi Melles scheint geboren zu sein für diese Dekade, für abgehobene Frauenzimmer und Standesdünkel. Katharina Schlothauer macht wie immer eine gute Figur – und auch die anderen passen gut ins very britische Bild eines noblen Herrenhauses. Dass dieser komödiantisch angehauchte Rätselkrimi nicht auf Nervenkitzel-Spannung setzt, versteht sich von selbst – lässt sich doch das Spiel-im-Spiel-Element nicht so einfach vergessen. Das wollte der Autor auch gar nicht. Und so lässt er denn bewusst zwei Mal das mörderische Treiben auf Beckford Hall unterbrechen, zeigt Kalli, Franz, Ivo & Co, wie sie am Rahmenschauplatz München den Stand der Dinge doppelbödig & kritisch kommentieren („ein guter Cliffhanger“). Das alles macht „Mord unter Misteln“ zu einer unterhaltsamen Agatha-Christie-Hommage, die man sich als Zuschauer ganz besonders am Zweiten Weihnachtsfeiertag gern gefallen lässt. Dieser „Tatort“ ist kein perfekter Krimi und nur sehr moderat meta, aber dieser 90. Fall von Leitmayr & Batic ist ein ziemlich perfektes Familienprogramm, das mit einem guten Roten sicherlich besonders mundet.
Wo das Szenische dominiert, bedarf es kluger Drehbuch-Ideen und cleverer Montage-Techniken, um das Gezeigte aufzulockern. Löhr, Oetzmann und Editor Florian Duffe gelingt es, mit einer fein akzentuiert geschnittenen Exposition mit ebenso flotten Befragungspingpongs voller Ellipsen, bei dem ein Wort bzw. Bild das andere gibt, die Statik der (stimmig ausgestatteten) Räume zu brechen. Bewe-gung anderer Art kommt über den großflächigen Top-Score, der vom Münchner Rundfunkorchester eingespielt wurde, in die Bilder. Bilder, für die Kameramann Volker Tittel immer wieder nach Lichtverhältnissen, die dem Jahr 1922 entsprechen, Ausschau hielt. „Elektrisches Licht, Kamin, Kerzen, Mondschein. Wir versuchten so authentisch wie möglich zu leuchten. Eine große logistische Herausforderung waren die vielen Nachtszenen“, so Tittel im BR-Pressetext.