Ermittlungsfehler, ein Puff, die Liebe und sieben Tote
Ivo Batic (Miroslav Nemec) kann es nicht fassen: dieser Rumäne auf der Anklagebank, der sofort geständig war, keine Versuche unternahm, seine Schuld irgendwie zu relativieren und der jetzt mit stoischer Ruhe eine lebenslängliche Haftstrafe hinnimmt – so was gibt es nicht! „Milieu, Ivo, schon mal gehört: Er blau, braucht Geld, sie plärrt, Ende“, kommentiert Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) das Bauchgefühl seines Kollegen. Doch dann bereitet auch ihm der Fall einer ermordeten Prostituierten eine schlaflose Nacht. Am nächsten Tag nehmen die beiden den Fall wieder auf – überzeugt davon, bei ihren Ermittlungen einige Böcke geschossen zu haben. Bald gibt es Hinweise auf eine zweite rumänische Prostituierte, die seit der Nacht, in der ihre Leidensgenossin zu Tode kam, verschwunden ist. Was die Kommissare noch nicht wissen: Jene Mia (Mercedes Müller) ist untergetaucht, sie hat in dem jungen Wäschereifahrer Benny (Max von der Groeben) ihren Retter gefunden. Sie schwebt offenbar in Lebensgefahr. Sind es ihre rumänischen „Agenten“, die ihr ans Leder wollen? Oder haben Ivos Jugendspezi, der Rotlichtbaron Harry Schneider (Robert Palfrader), und sein Adjutant, der ehemalige Scharfschütze Siggi Rasch (Andreas Lust), die sich nach außen ein so humanes Image geben, doch ihre schmierigen Hände mit im Spiel? Vermutlich ist Mia Zeugin des Mordes an ihrer Kollegin geworden. Würde sich sonst Schneider „die Sache“ 150.000 Euro kosten lassen?!
Foto: BR / Roxy Film / Regina Recht
Leuchttürme des BR-„Tatorts“: In den Abgründen der Triebe
25 Jahre sind Udo Wachtveitl und Miroslav Nemec nun schon für den Bayerischen Rundfunk im „Tatort“-Einsatz, in über 70 Fällen haben ihre Kommissare Leitmayr und Batic mittlerweile in sympathischer Buddy-Manier ermittelt. Dass man ihrer – im Gegensatz beispielsweise zu Odenthal & Kopper – noch immer nicht überdrüssig geworden ist, sondern ganz im Gegenteil, ihre Filme immer wieder für Überraschungen gut sind, liegt vor allem an einer mutigen und weitsichtigen Redaktion, die das Besondere im Bewährten sucht und häufig Autoren und Regisseure verpflichtet, die es verstehen, das beliebte Krimi-Genre, den Selbstläufer „Tatort“, mit der Lust am dezenten Bruch zu verbinden. Auch der Jubiläumsfilm ist wieder einmal ein stimmiges Ausnahmestück: „Mia san jetz da wo’s weh tut“, der Titel passt nicht nur vortrefflich zu diesem zweiten „Tatort“ von Max Färberböck, er ist quasi auch das Motto all jener BR-Leuchttürme der Reihe, Filme, die auf besondere Weise nachwirken, auch, weil sie „anders“ erzählt sind. Es ist kein Zufall, dass die nachhaltigsten Krimis aus München jene tiefen Abgründe ausloten, die das Triebleben zutage fördert. Vergewaltigung („Nie wieder frei sein“), Prostitution und Kindesmissbrauch („Frau Bu lacht“), Verführung und ein verliebter Kommissar („Im freien Fall“ und „Am Ende des Flurs“) oder eine Variation mit reichlich Münchner Bordell-Historie („Der oide Depp“), diese Themen veredelten Regisseure wie Dominik Graf, Michael Gutmann oder – zwei Mal Max Färberböck. Dessen Jubiläums-„Tatort“ ist nun eine Melange all dieser Motive; im Gegensatz zu „Am Ende des Flurs“ liegt hier der Schwerpunkt weniger auf dem Faszinosum Frau als auf allen Beteiligten der „Interaktion“ Prostitution: Huren, Zuhälter, Kunden & das Sozialgefälle zwischen ihnen.
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Eine schicksalshafte Krimi-Katastrophen-Geschichte voller Wut
„In Puffgeschichte bin ich ganz schlecht“, gab Leitmayr einst in „Der oide Depp“ zum Besten. Batic scheint auf diesem Gebiet bewanderter zu sein – allein schon durch die lange Freundschaft zum Bordellbesitzer Harry, die offenbar die Ermittlungsfehler begünstigt hat. Auch der Zuschauer erfährt in „Mia san jetz da wo’s weh tut“ am Rande etliches über das „saubere“ Münchner System, inklusive der polizeilichen Registrierung der Prostituierten, über deren vermeintlich „freies Unternehmertum“ und über die Gesetzte des Marktes, durch die die gewerblichen Huren jahrelang auf Europa-Tournee geschickt werden. Auf dieser moralisch-narrativen Grundlage erblüht die unschuldige Liebesgeschichte zwischen dem jungen Mann („eine Seele von einem Menschen“) und dem traurigen Prostituierten-Girlie, die in dieser blauäugigen Konstellation zur Tragödie zu werden droht. Wie unlängst im „Tatort“-Melo „Kartenhaus“ ist auch hier der Liebende – in seinem verklärten, realitätsfernen Blick auf die Welt sehr überzeugend von Max von der Groeben dargestellt – zu allem bereit für das Objekt seines Begehrens: „Du bist mein Sinn, Mia.“ Und Mia lächelt nur. Ein weiterer Grund dafür, dass den Ermittlungsweg dieses Falls, der mit einer „triebgesteuerten“ Tötung einer Prostituierten beginnt, am Ende sieben Leichen pflastern, ergibt sich aus Färberbocks eigenwilliger Genre-Mixtur. So alltagsnah die Ausgangssituation und das Milieu, so sehr überhöht der Autor-Regisseur den Krimi zum Melodram, zur schicksalshaften Katastrophen-Geschichte voller Wut (nicht nur auf Seiten Batics) und einer Träne im Augenwinkel, aber auch ästhetisch ist das großes TV-Kino. Der Film steckt voller mythischer Bilder: kräftig farbgesättigt die Aufnahmen aus Ferentari, dem Armenhaus von Bukarest, geradezu magisch stilisiert die Verhörszenen im Halbdunkel, die die Silberlocken der Kommissare wunderbar zum Glänzen bringen oder die junge, entwurzelte Frau mit der hellen Perücke als Sinnbild für die Verlorenheit eines Lustobjekts, in dessen Jugend sich gleichsam der sexuelle Zeitgeist spiegelt. Mercedes Müller trifft diese sprachlose Melancholie ausgezeichnet, ebenso gut geben Robert Palfrader und Andreas Lust ihre hemdsärmeligen zweigesichtigen Puff-Lautsprecher. Eine Marke für sich ist auch Till Wonka als zugedröhnter Mann fürs Grobe. Wie bei den Machos aus dem Bordellgewerbe gehört auch bei ihm Selbstüberschätzung zum Business.
Foto: BR / Roxy Film / Regina Recht
Triebgesteuerter Plot & ein Erzählfluss, der sich selbst antreibt
Zu Färberböcks Krimi-Handschrift gehört – neben dem wiederkehrenden Motiv der Frau, die den Mann beflügelt und zum Leben erweckt – eine Dramaturgie, die den Zuschauer nicht bevormundet oder manipuliert, sondern fordert: Ermitteln ist ein hartes Geschäft, oft abhängiger von Zufällen als von kausalen Schlüssen, entsprechend fällt Färberböcks Informationspolitik aus – Aussagen, Indizien, Ermittlungsergebnisse, ungeordnet strömen sie auf einen ein. Als Zuschauer muss man sich die Wirklichkeit zusammenpuzzeln und weil man mehr weiß als die Ermittler, braucht man sich von ihnen nicht die Welt erklären zu lassen. Indem Färberböck dem Zuschauer drei Handlungsstränge (Ermittler, Zuhälter, das Pärchen) präsentiert und ihn so an der Dramaturgie aktiv beteiligt, muss er ihm – damit die Geschichte spannend bleibt – nicht allzu viele Verdächtige präsentieren. Er gewichtet auch Szenen nie deutlich erkennbar als wichtig oder weniger wichtig für die Krimihandlung, sein Realismus geht vom Erfarungshorizont der Kommissare aus: wie sie muss der sich Fragen stellende Zuschauer selbst seine Schlüsse ziehen. Dazu passt ganz vorzüglich die filmsprachliche Umsetzung: ein flüssiger Rhythmus, elegant fotografiert und montiert, ein Erzählfluss, der sich selbst antreibt und nicht durch die Handlung zum Finale gedrängt wird. Geradezu hypnotisch wird es, wenn Cutterin Susanne Hartmann, ähnlich wie bei Färberböcks erstem „Tatort“, die Einstellungen mit Weißblenden ineinander übergehen lässt. Außergewöhnlich gut ist auch der Score, der die Stimmungen miterzählt, anstatt sie zu doppeln, und mit raffinierten Soundideen (ein leitmotivisches Klatschgeräusch) eine dichte Klangatmosphäre stiftet. Das alles macht aus „Mia san jetz da wo’s weh tut“ ein kleines filmisches Krimigesamtkunstwerk.