Laubengang, Pausenhof, Schulflur, Treppenhaus, Schulflur: Lange Kamerafahrten und zwei Schnitte. Mit einem unmerklich anschwellenden Störgeräusch im Ohr folgt der Zuschauer dem neunjährigen Marlon (Lucas Herzog) durch seine Schule. „Gemeinsam stark, gemeinsam Spaß!!“ steht auf dem Treppenabsatz an der Wand. Lüge! schreit jeder wütende Schritt des Jungen. Trotz Verbot ist Marlon am Tag des Schulfests gekommen. Jetzt hämmert er an eine verschlossene Tür und schaut uns zum ersten und letzten Mal in die Augen. Schnitt.
Nach diesem starken Auftakt liegt das Kind tot am Treppenaufgang. Offensichtlich hat jemand Marlons Sturz herbeigeführt. Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) und Johanna Stern (Lisa Bitter) müssen neben Erwachsenen auch Kinder in Betracht ziehen. Sprachlos sehen sie sich von potenziellen Tätern umringt. Mehr oder weniger betroffen sammeln sie sich in den Gängen und Klassenzimmern. Schulflure können eine Menge erzählen. Der Fall lässt das nicht ungenutzt. Ein guter Teil seiner Spannung beruht auf dem Zusammenprall gegensätzlicher Welten. Von der ersehnten, friedlichen erzählen die Bilder auf den Fluren. Sie zeigen eine bunte Blumenwiese oder Kinder, die händchenhaltend die Erdkugel zusammenhalten. Die andere Welt, das sind schreiende Schüler, die längst nicht mehr nur von Lehrern betreut werden. Auf dem Pausenhof sind „Konflikt-Lotsen“ postiert. Hauptberuflich hört Sozial-Arbeiter Anton Leu (Ludwig Trepte) allen zu. Sein Büro ist Musikzimmer und Kuschelecke zugleich. Es ist das fiktive Pendant zu jenem Raum, in dem „Herr Bachmann und seine Klasse“ in dem gleichnamigen, mehrfach prämierten Dokumentarfilm (2021, Regie: Maria Speth) runterkommen. Leu hat den toten Marlon gefunden. Odenthal gegenüber zählt er seine vergeblichen Versuche auf, eine zweite sozialpädagogische Kraft im Kollegium zu installieren.
Auch außerhalb der Schule leben Kinder und Erwachsene in diesem „Tatort“ in getrennten Welten. Unwillig sitzt man im Kommissariat auf dem gleichen Sofa, selten isst man zuhause gemeinsam am Tisch. Direkte Blicke sind die Ausnahme, ständige Anspannung die Regel. Nur Marlons Eltern sinken in sich zusammen. Für sie ist das alles vorbei. Klugerweise verzichtet Autorin Karlotta Ehrenberg in der Ausgestaltung der Vater-Mutter-Figuren auf zusätzliches Elend. Marlon Eltern (Julika Eichel, Markus Lerch) sind verzweifelt, aber keine Psycho-Wracks. Oliver Ritter (Urs Jucker), Vater der resoluten Madita (Hanna Lazarakopoulos), wollte den aggressiven Marlon der Schule verweisen lassen, ihn aber sicher nicht umbringen. Frau Lehmann, Mutter von Marlons bestem Freund (Finn Lehmann), versucht ihr Bestes, schafft es aber nicht, ihren Sohn zu erreichen. „Tatort – Marlon“ zeigt die Spielarten der Hilflosigkeit in einem Maß, wie es alle Eltern treffen kann. Die persönliche Hilflosigkeit Einzelner mündet in das Versagen der Institution Schule. Alle sind bemüht, keiner trägt die Schuld.
An Marlons Sturz aber trägt einer Schuld. Das ist die Perspektive, mit der Lena Odenthal durch diesen Fall joggt. Ob kopfschüttelnd oder ein stummes Kind bekniend: Ulrike Folkerts ist dem Zuschauer immer sehr nah. Stellvertretend für ihn, sondiert sie das Terrain. An ihrer Seite gehen wir in Marlons Kinderzimmer auf Spurensuche, entdecken sein Versteck am Rand des Schulhofs. In einem verlassenen Gewächshaus haben sich die Außenseiter Marlon, Madita und Pit sich einen kleinen Rest kindlicher Freiheit bewahrt. Die Entdeckung und die Rückblenden auf Momente in diesem gewaltfreien Refugium sind mit sanften Klängen unterlegt. Dem Glücksversprechen folgt eine neue Spur, die von Marlons Träumen, seiner Chance auf Rehabilitation und von einer unvorhergesehenen Allianz mit einem seiner größten Widersacher zeugt. So schält sich aus dem Störenfried ein Junge heraus auf der Suche nach Anerkennung und Glück. Nicht jedes Geheimnis und nicht jede Wendung löst Regisseurin Isabel Braak („Tatort – Rettung so nah“, 2021) so elegant wie in diesen Bildern von einem selig lächelnden und stolz kämpfenden Marlon. Andere Fährten, die sich in Halbsätzen von Zeugen oder Kindern andeuten, enträtseln die Ermittlerinnen im Zwiegespräch. Es sind diese gern genommenen Autofahrten von A nach B, in denen die Dialoge zwischen Odenthal und Stern nicht immer überzeugen und ihre Einsichten allzu ad hoc daherkommen. Auch ihr Nachspiel des vermuteten Tathergangs wirkt zu sehr wie ein Fremdkörper im Erzählfluss. Diese Zugaben für den in Fantasie unbegabten Zuschauer kommen nicht aus der Mode, obwohl sie in vielen Fällen nach hinten losgehen. So auch hier.
Im Großen und Ganzen nimmt sich „Tatort – Marlon“ einem brandwichtigen Thema an. Konzentriert umreißt der Fall die Hilflosigkeit im Umgang mit Angst und Aggression. Emotional packt er den Zuschauer mit Menschen, die zerbrochenen Träumen oder Selbstbildern nachtrauern, statt Hilfe in Anspruch zu nehmen. Und mit Kindern, die nicht liebenswert sind. Wie Unverständnis das Fundament jedes Miteinanders zerstört, zeigt ein kleiner feiner Dialog zwischen Kripo-Assistentin Keller und dem Mädchen Madita am Rande eines Verhörs. Motive und Verdächtige gedeihen in diesem Gemenge viele. Langweilig wird`s nicht, allzu einfach ist kein Täter auszumachen und selbst eingeschworene Krimifans erkennen schnell, dass es darum allein hier nicht geht. Dass sich das Publikum noch mehr traut, wäre sicher im Sinne der Erfinder. Nora Fingscheidts Kino-Drama „Systemsprenger“ (2019) kam bei der TV-Erstausstrahlung vor einem Jahr auf eine Zuschauerquote von gut 5 Millionen. Den „Tatort“ schalten durchschnittlich fast doppelt so viele ein. (Text-Stand: 20.4.2022)