Versicherungsbetrug – „Was sind das für Menschen, die sowas tun?“, fragt sich das selbsternannte Universalgenie Boerne (Jan Josef Liefers), Experte auch in dieser Materie. Für ihn ist der Fall schnell klar: Doreen Prätorius (Cordelia Wege) ist ein solcher Mensch. Sie hackt sich nicht die Hand ab, um die Versicherungssumme in Millionenhöhe zu kassieren, sie geht zweieinhalb lange Jahre den Rechtsweg mit einem begnadeten Anwalt (Nils Brunkhorst) an ihrer Seite, den sie offenbar – als sie ihn nicht mehr braucht – übers Geländer schubst. Aber kann diese Frau, die in ihrem Riesenhaus hockt wie ein Häuflein Elend und sich offenbar an nichts mehr erinnern kann, so kaltblütig sein? Kommissar Thiel (Axel Prahl) kann und will das nicht glauben. Wer bringt seinen Wohltäter am Tag seines Triumphes um? Viele Fragen, keine Antworten. Tatsache ist nur: Der Anwalt landete nach dem Sturz vom Geländer im Speer einer exotischen Krieger-Skulptur; der im Dschungel verschollene, fürstlich versicherte Ehemann war Archäologe. Doch was heißt hier „war“: Jonas Karl Prätorius (Christian Erdmann) lebt, in den letzten zweieinhalb Jahren die meiste Zeit zwar im heimeligen Bunker im Keller, anstatt die große weite Welt zu bereisen, aber das könnte jetzt anders werden. Wären da nicht diese Fraktur am Hinterkopf, die er dem Anwalt zugefügt hat, und seine ihn selbstlos liebende Frau, die von Schuldgefühlen geplagt, reinen Tisch machen möchte.
Foto: WDR / Thomas Kost
In „Man stirbt nur zweimal“, dem sechsundvierzigsten „Tatort“ aus Münster, ist der Zuschauer früh im Bilde, lange bevor Thiel und Boerne dem Fake-Indiana-Jones auf die Spur kommen. Ein dummer Zufall vermiest dem Ehepaar die Champagner-Laune und verkürzt dem „besten Anwalt der Welt“ sein Dasein auf Erden. Dieser große Informationsvorsprung des Publikums ist eine ebenso große Herausforderung an das Drehbuch, da es in der Regel nicht sexy ist dabei zuzuschauen, wie Ermittler dem Zuschauerwissen hinterherhecheln, und da in dieser Ehetragödie auch kein „Columbo“-likes Duell zwischen Boerne/Thiel mit der verstörten Witwe zu erwarten ist. Sascha Arango, ein Autor für die besonderen Fälle (die Borowski-Trilogie um den „stillen Gast“ Lars Eidinger oder sechsmal „Blond: Eva Blond“), liefert reichlich Situationen, die den Zuschauer Hypothesen über den weiteren Gang der Handlung aufstellen lassen, was in diesem Fall aufregender ist als den Mörder zu suchen. Wird jener „Vampir“ Prätorius, der seine Frau jahrelang ausgenutzt hat und zuhause verkümmern ließ, sie auch weiterhin betrügen und ohne sie das Weite suchen? Wird er sie, die zwischen Suizid und Geständnis schwankt, auch noch beseitigen? Oder wird sie den Spieß umdrehen und sich in einem Akt der Selbstermächtigung ihr Leben zurückholen? Oder wird eine doppelte Tragödie die unglücklich verlaufende Suche nach dem (materiellen) Glück diese – nicht nur für den „Tatort“ Münster – ungewöhnliche Geschichte beenden?
Die unwissenden Thiel und Boerne stellen sich ebenfalls viele Fragen – und damit dies für den Zuschauer nicht zu redundant wird, gibt es als Ersatz für die deutlich heruntergefahrenen Foppereien der beiden Szenen und Momente, die höchst unterhaltsam Abwechslung ins Spiel bringen. Immer wieder haben sie Visionen vom Tathergang. Vom rationalen Boerne sind sie geprägt von seiner Expertise in Sachen Versicherungsbetrug. Doch selbst Thiel, der mehr und mehr Mitgefühl hat mit der „dressierten Frau“, stellt sich vor, wie sie den Anwalt hätte töten können, verwirft diese Scenarios allerdings sofort wieder. Launig auch die Situation, in der Silke Haller (ChrisTine Urspruch) ihrem Chef beweist, wie weibliche Wut die Gesetze der Physik aushebeln kann. Der selbstgewiss lächelnde Boerne erwartet einen Schubser, stattdessen fliegt er in hohem Bogen über den Obduktionstisch. Und weil Thiel nicht das SEK alias „Senioreneinsatzkommando“ rufen möchte, sitzen die beiden wenig später in der Falle; der eine träumt von „Madame Butterfly“, der andere freut sich über eingemachte Ananas. Nur die Luft wird knapp. Auch das gehört zu guter Dramaturgie. Wenn man sich schon einen Bunker für die Story ausgedacht hat, kann er doch noch ein zweites Mal Verwendung finden. Clever eingesetzt wird auch Boernes schöner Mercedes-Oldtimer. Und eine besonders liebenswerte Note hat Arango Axels Prahls Thiel ins Drehbuch geschrieben: „Warum haben solche Arschloch-Typen eigentlich immer die tollsten Frauen?“ Die falsche Witwe weckt tiefe Sehnsüchte in ihm. Und da dieser „Tatort“ auf Klamauk verzichtet, jeder Witz oder originelle Exkurs einen Bezug zur Handlung hat, funktionieren auch diese Anflüge von Gefühl prima.
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Bleibt das Objekt des Begehrens. Die Ärmste, die ungesunde Beziehung, in der sie gefangen ist, und all die materiellen wie seelischen Opfer, die sie gebracht hat für einen Mann, der es nicht wert ist: Den Zuschauern dürfte es emotional ähnlich gehen wie dem mitfühlenden Thiel. Und um die Psychologie dieser Figur zu decodieren, wird man in ihr Gesicht schauen und versuchen, ihr Verhalten zu lesen, die Wahrheit hinter ihrem falschen Spiel zu erkennen. Bei diesem Blick lässt sich dann auch unschwer das famose Doppelspiel von Cordelia Wege entdecken, die hier viele soziale Rollen zu spielen hat: die trauernde Witwe, die Frau ohne Gedächtnis, die Frau, die weiß, dass sie Täterin ist, die Frau, die noch nicht weiß, dass sie Opfer ist, die Frau, die dies irgendwann merkt, und die Frau, die schließlich selbstbestimmt und verantwortungsbewusst handelt. Im „Tatort – Borowski und der Wiedergänger“ spielte Wege, die unlängst mit der nicht weniger überzeugenden, leichteren Krimi-Reihe „Nord bei Nordost“ in Serie ging, eine ähnlich komplexe Figur und schwer durchschaubare Ehefrau. Apropos genau hingucken: Wer die zwei „Flensburg-Krimis“ auf Vorabendserienniveau von Janis Rebecca Rattenni kennt, wird sich die Augen reiben. „Man stirbt nur zweimal“ ist bestens inszeniert, besonders bestechend der stimmungsvolle Einstieg, die eleganten Szenenüberleitungen, die liebevolle Ausstattung. Gemeinsam mit dem dichten Buch sorgt also auch die Regie für einen Münster-„Tatort“ aus einem Guss.
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O.K, endlich mal wieder ein Münster-Tatort, wo ich nicht wegen u.a. zu viel Albernheiten nach 20-30 Minuten ausgestiegen bin.