Diese „Tatort“-Folge des Hessischen Rundfunks führt auf kreativen Umwegen zum obligatorischen Leichenfund. Die 19-jährige Luise Nathan (Jana McKinnon) trägt am Tag des Erscheinens ihres Debütromans einige Sätze aus „Luna frisst oder stirbt“ vor. Zuerst direkt in die Kamera, an irgendein fiktives Publikum gerichtet. Dann von einer Bühne herab in einen Saal, wie bei einer klassischen Lesung. Das Publikum besteht aus geladenen Gästen, Luises Mutter Friederike (Nicole Marischka), die Frankfurter Stadträtin für Jugend und Soziales, lächelt Verleger Roland Häbler (Clemens Schick) zu – genau in dem Augenblick, in dem ihre Tochter Luise der Romanheldin Luna ziemlich unschöne Wörter über ihre Mutter in den Mund legt. Im fließenden Übergang geht es weiter in eine dritte Variante der Inszenierung: Luise wird für einen Fernsehbeitrag interviewt. Aus dem Off kommentiert eine unbekannte Autorin, Luise erhebe mit ihrem Roman die Stimme gegen Chancenungleichheit.
Foto: HR / Bettina Müller
Tatsächlich scheint sich hier eine aus behüteten Verhältnissen stammende, junge Frau in das Leben einer sozial abgehängten Gleichaltrigen hineinzuversetzen. Oder entspringt der Roman dem Talent einer verzweifelten jungen Frau, die den eigenen Selbstmord literarisch inszeniert? Darauf deutet der etwas makaber inszenierte Wechsel in den üblichen „Tatort“-Modus hin. Auf dem Smartphone von Kripoassistent Jonas (Isaak Dentler) hört man noch ein Statement von Luise: Wenn sie es so schwer hätte wie Luna, würde sie sich auch die Frage stellen, ob sie in den Abgrund springe. Anschließend blicken Jonas sowie Kommissarin Anna Janneke (Margarita Broich) und Kollege Brix (Wolfram Koch) hoch zur Main-Brücke. Zu ihren Füßen liegt Luises Leiche. Die junge Autorin war vorzeitig von der Party am Abend des Erscheinens ihres Debütromans verschwunden. Was ist Dichtung, was ist Wahrheit in ihrem Roman?
Katharina Bischof (Drehbuch, Regie) und Johanna Thalmann (Drehbuch) verweben in ihrer Geschichte also die „Tatort“-Fernseh-Fiktion mit einer weiteren fiktionalen Ebene, Luises Roman. Das ist noch keine besonders innovative Idee. Dennoch hebt dieser Ansatz auch den Anspruch an einen Film, der erkennbar mehr sein will als ein konventioneller Wer-ist’s-gewesen-Krimi. Das erste Drittel wirkt etwas holprig, weil das Drehbuch einige Schleifen drehen und Verdächtige präsentieren muss, ehe der Fokus der Geschichte gefunden wird. Auch mag es irritieren, dass hier eine junge Frau aus der Generation der „digital natives“ kein Internet-Tagebuch führt, keine Instagram-Story entwirft, keine Youtube-Videos dreht, sondern einen Roman schreibt – und tatsächlich einen Verlag findet, der den vermeintlich authentischen Selbstfindungs-Text in schnoddriger Sprache veröffentlicht. Das wirkt unzeitgemäß, etwas konstruiert und wie ein Zugeständnis ans ARD-Fernsehpublikum, das bekanntlich im Durchschnitt älter als 60 ist (wobei der „Tatort“ immerhin ein etwas jüngeres Publikum hat). Kann man so sehen, aber der Bruch mit vermeintlich in Stein gemeißelten Erwartungen an ein zeitgemäßes Erzählen ist dann auch wieder sympathisch.
Foto: HR / Bettina Müller
Das Spiel mit den verschiedenen fiktionalen Ebenen wird außerdem clever in den Krimi-Plot eingebaut. Der Roman wird zum Leitfaden bei den Ermittlungen der Frankfurter Kommissare. Hübsche Idee, Janneke und Brix immer wieder im Roman blättern zu sehen (zumal am Standort der wichtigsten Buchmesse in Deutschland, obwohl davon nicht explizit die Rede ist). Was sie lesen, wird durch Spielszenen zu einer trügerischen filmischen Realität. Mehr und mehr rückt dabei die Freundschaft zwischen Luise und Nellie Kunze (Lena Urzendowsky) in den Mittelpunkt. Beide kennen sich durch das Sozialprojekt „Kelle“, einem Café und Treffpunkt für sozial Schwache, das auch Luises Mutter, die Stadträtin, unterstützt. Es ist eine ungleiche Freundschaft, auch wenn beide bei alleinerziehenden Müttern leben. Neben Urzendowsky, die ihren Charakter aus einer anfangs unscheinbaren Rolle unter Bischofs Regie stark entwickelt, überzeugt vor allem Tinka Fürst. Im Kölner „Tatort“ ist sie schon seit einigen Folgen als Kriminaltechnikerin zu sehen. Hier verleiht sie der anfangs etwas klischeehaft wirkenden Figur von Nellies Mutter Jessie aus dem Arme-Leute-Milieu Energie und Eigenständigkeit. So wird aus dem Krimi noch ein überraschend spannendes, vielschichtiges Sozial- und Familien-Drama. (Text-Stand: 10.10.2021)