Tatort – Lakritz

Prahl, Liefers, Kempter, Kuhl, Wettcke, Chahoud. Episode 35 ist ein echtes Highlight!

Foto: WDR / Willi Weber
Foto Tilmann P. Gangloff

In dem äußerst vergnüglichen „Tatort“ aus Münster lösen Boerne und Thiel neben einem aktuellen Fall auch ein 40 Jahre zurückliegendes Verbrechen. Der besondere Reiz von „Lakritz“ (WDR / Molina Film) liegt in der gelungenen Verschmelzung von Gegenwart und Vergangenheit: Schon als Teenager war der spätere Rechtsmediziner einem Mord auf der Spur. Davon abgesehen ist der Film eine todernste Krimikomödie. In früheren Episoden war die Mördersuche mitunter bloß ein besserer Vorwand für die Wortgefechte der Hauptfiguren. Drehbuchautor Thorsten Wettcke hat diesmal jedoch eine perfekte Balance gefunden, zumal Axel Prahl und Jan Josef Liefers frisch wie am ersten Tag miteinander harmonieren. Die vielen amüsanten Details am Rande sind keine Ablenkung, sondern sorgfältig in die Handlung integriert. Selbst die präzise gespielten Slapstickeinlagen wirken nie deplatziert.

Ob sich Jan Josef Liefers und Axel Prahl nach Drehschluss immer noch gut verstehen, wissen nur die Beteiligten. Vor der Kamera jedenfalls funktioniert das Gespann prächtig, weshalb es den Zuschauern relativ egal sein kann, ob die beiden ihren Umgang miteinander à la Mick Jagger und Keith Richards ansonsten aufs Nötigste beschränken. „Lakritz“ ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie gut das Duo auch nach 17 gemeinsamen „Tatort“-Jahren noch miteinander harmoniert. Dieses Kriterium haben die bislang 35 Episoden allerdings ohnehin stets erfüllt; Schwächen hatten die Krimis immer dann, wenn die gegenseitigen Frotzeleien von Hauptkommissar Thiel (Prahl) und Rechtsmediziner Boerne (Liefers) dem Selbstzweck dienten und die Mördersuche bloß ein Vorwand für ihre Wortgefechte war.

Tatort – LakritzFoto: WDR / Willi Weber
Tatort heute. Den Marktmeister des Münsteraner Wochenmarkts hat es erwischt. Dieser Tatort riecht nach fetten Nebeneinkünften. Axel Prahl, Jan Josef Liefers, Friederike Kempter

Diese Balance zwischen Krimi und Comedy ist Thorsten Wettcke, der seine bisherigen  Drehbücher für den „Tatort“ aus Münster gemeinsam mit Christoph Silber geschrieben hat, bei „Schwanensee“ (2015) nicht gelungen; „Zwischen den Ohren“ (2011) und „Gott ist auch nur ein Mensch“ (2017) waren dagegen ausgezeichnete Beispiele für todernste Krimikomödien. Für „Lakritz“, von Wettcke allein verfasst, gilt das nicht minder, zumal die Geschichte von eindrucksvoller Komplexität ist, weil der Autor zwei Handlungsebenen miteinander verwebt: Als Thiel und Boerne nach dem Mörder des Wochenmarktmeisters suchen, wird der Rechtsmediziner unerwartet mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Mit 13 war Karl-Friedrich, schon damals ein unerträglicher Besserwisser, in die Tochter der Lakritzherstellers Maltritz verliebt. Diese hatte jedoch nur Augen für den doofen Bernhard, der dem kleinen Boerne auch noch ein Lakritztrauma verpasst hat. Als die schöne Monika Karl-Friedrich auf dem Speicher des Geschäfts trotzdem einen Moment der Gunst gewährt, wird die erotische Vorfreude jäh beendet, denn vom Balken baumelt Frau Maltritz. An dieses Erlebnis wird Boerne erinnert, als er rausfindet, woran der Marktleiter gestorben ist: Der Mann wurde mit Zyankali vergiftet, das einer Portion Lakritz beigemischt war. Der Verdacht fällt zwar zunächst auf einen holländischen Händler, der die Marktlizenz der Familie Maltritz übernommen hat, aber dann führt die Spur ins Haus von Boernes Jugendliebe; und weil schon der junge Karl-Friedrich ein untrügliches Gespür für rechtsmedizinische Vorgänge hatte, kann er dank seiner damaligen Aufzeichnungen rekonstruieren, dass auch Frau Maltritz vergiftet worden sein muss.

Soundtrack: Harold Melvin & The Bluenotes („Don’t Leave Me This Way“), Dr. Hook („Walk Right In”), Baha Men („Who Let The Dogs Out”), The Turtles („Happy Together”), Ike & Tina Turner („I’m Blue”), Bright Eyes („First Day Of My Life”)

Tatort – LakritzFoto: WDR / Willi Weber
Tatort Kindheit. Karl-Friedrich erlebte im zarten Alter von 13 Jahren ein Lakritz-Trauma – vor den Augen seines Jugendschwarms, dem feuchten Traum seiner schlaflosen Nächte: Mo-Mo-Monika (Jamie Bick). Vincent Hahnen & Justus Czaja

Wie beim „Tatort“ aus Münster gewohnt, sorgt Wettcke rechts und links von der Handlung für amüsante Details. Schon der kunterbunt gestaltete Titel ist ein erster Hinweis auf die Tonart, in der Randa Chahoud das Drehbuch umgesetzt hat. Die Regisseurin hat bislang vorzugsweise fürs ZDF gearbeitet. Für ihre erste Arbeit, die Satireserie „Ion Tichy – Raumpilot“ (2006/07, Das kleine Fernsehspiel), ist sie im Rahmen des Deutschen Fernsehpreises mit dem Förderpreis Regie ausgezeichnet worden; anschließend hat sie den Mehrteiler „Bruder – Schwarze Macht“ (2017, Neo) gedreht. Ein „Tatort“ aus Münster ist natürlich nicht nur wegen des Renommees eine ganz andere Sache, aber die überdurchschnittliche Qualität von „Lakritz“ spricht für sich. Zu den beiläufig einstreuten unterhaltsamen Nebenschauplätzen, die sich durch den ganzen Film ziehen, zählt unter anderem der radikal umgestellte Lebenswandel Thiels, der sich zur Verwunderung Boernes ausschließlich von Smoothies & Gemüse ernährt.

Ein zweiter roter Faden sind die Kurzauftritte von Thiel senior: „Vaddern“ (Claus D. Clausnitzer) treibt einen schwunghaften Handel mit Rauschmitteln und sorgt für Halligalli im Altenheim. Was bei einem weniger guten Drehbuch leicht wie ein Fremdkörper oder wie erzwungene Heiterkeit wirken könnte, ist hier harmonisch in die Handlung integriert, zumal die entsprechende Seniorenresidenz eine wichtige Rolle für die Geschichte spielt: Dort ist nicht nur der alte Maltritz (Walter Hess) untergebracht, hier treibt auch Bernhard (Patrick von Blume), der frühere Peiniger des jungen Karl-Friedrich, als Pfleger sein Unwesen; und der hat einst eine Ausbildung zum Apotheker absolviert. Verdächtige gibt es ohnehin zuhauf, denn der Marktmeister hat in Dutzenden Aktenordnern seit Jahrzehnten fein säuberlich notiert, welche Leichen seine Mitbürger im Keller haben; und selbstredend hat er sie alle erpresst.

Tatort – LakritzFoto: WDR / Willi Weber
Als ob die Zeit stehengeblieben wäre. Im Lakritz-Kontor trifft Boerne (Jan Josef Liefers) wieder auf Monika (Annika Kuhl). Danach steht sie unter Mordverdacht.

Gerade die Kombination von Gegenwart und Vergangenheit ist Chahoud ausgezeichnet gelungen. Als Boerne am Lakritz schnuppert, bricht ein regelrechtes Schnittgewitter mit Bildern aus seiner Jugend über ihn herein. Da in der Lakritzmanufaktur die Zeit stehen geblieben ist, sind die Übergänge fließend. Auf diese Weise wird Boerne Zeuge, wie sein dickliches und mit wichtigtuerischem Aktenkoffer versehenes Alter Ego vergeblich versucht, einem ignoranten Polizisten klarzumachen, dass sich Monikas Mutter unmöglich selbst umgebracht haben kann. In dem Aktenkoffer findet Boerne schließlich auch sein „Detektivtagebuch“. Beim gemeinsamen Stöbern m Keller hatte Thiel zuvor ein Mixtape entdeckt, dass Karl-Friedrich für Monika aufgenommen, ihr aber nie überreicht hat; deshalb erklingen in diesem „Tatort“ ungewöhnliche viele Pop-Oldies.

Sehr gut ist auch die Arbeit mit den Schauspielern. Gerade bei den jungen Mitwirkenden ist die Darstellerführung naturgemäß umso wichtiger; Vincent Hahnen macht seine Sache als unglücklich verliebter junger Karl-Friedrich ebenso prima wie Jamie Bick als Traum von Karl-Friedrichs schlaflosen Nächten (Annika Kuhl spielt die heutige Monika). Prahl und Liefers dagegen kämen vermutlich auch ohne Regie klar, aber ihre Dialogduelle wirken irgendwie frischer als sonst. Der Film profitiert ohnehin davon, dass Thiel und Boerne diesmal weniger darauf aus sind, sich gegenseitig mit Bosheiten zu traktieren, sondern sich tatsächlich wie Freunde verhalten, selbst wenn der Kommissar dies umgehend relativiert („Freund, Kollege, Nervensäge“); das ist zur Abwechslung auch mal ganz schön. Die präzise gespielten Slapstickeinlagen, wenn Boerne beispielsweise von Thiels Sitzball fällt, gibt’s gratis dazu.

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Reihe

WDR

Mit Axel Prahl, Jan Josef Liefers, Friederike Kempter, Annika Kuhl, Patrick von Blume, Mechthild Großmann, ChrisTine Urspruch, Vincent Hahnen, Jamie Bick, Claus-Dieter Clausnitzer, Walter Hess

Kamera: Kristian Leschner

Szenenbild: Bertram Strauß

Kostüm: Anne Jendritzko

Schnitt: Jürgen Winkelblech

Musik: Eike Groenewold

Redaktion: Nina Klamroth

Produktionsfirma: Molina Film

Produktion: Jutta Müller

Drehbuch: Thorsten Wettcke

Regie: Randa Chahoud

Quote: 12,64 Mio. Zuschauer (34,5% MA)

EA: 03.11.2019 20:15 Uhr | ARD

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