Ein Heckenschütze geht um in Luzern. Die ersten Opfer sind zwei albanische Autohändler. Der dritte Tote, ein Treuhänder und Geschwindigkeitsjunkie, folgt nur einen Tag später. Es sind Exekutionen auf offener Straße und am helllichten Tage. Die Tatwaffe: ein Gewehr mit Schalldämpfer und einem angesägten Projektil, Geschosse, wie sie im Jugoslawienkrieg verwendet wurden. Reto Flückiger, Liz Ritschard und die eilig zusammengestellte Soko können sich anfangs keinen Reim auf die Morde machen. Der Täter ist ihnen weit voraus – und er kündigt eine weitere Tötung an. Das in das Projektil eingravierte §-Zeichen bestätigt bald die Täter-Analyse des aus England eingeflogenen Profilers: Der Mann leidet offenbar unter einer posttraumatischen Verbitterung; er sei kein Psychopath, sondern ein Mann, der gern zupackt – lösungsorientiert, intelligent und enttäuscht von der Justiz. Stein des Anstoßes könnte die neue Schweizer Strafprozessordnung sein, deren Ergebnis eine völlig überforderte Staatsanwaltschaft ist. Nimmt deshalb ein Eidgenosse das Gesetz selbst in die Hand?
„Ihr werdet gerichtet“, der Titel des neunten „Tatort“ aus Luzern, gibt bereits deutliche Hinweise auf das Mordmotiv des Heckenschützen. Der Zuschauer weiß von Anfang an mehr als die Kommissare. Er bekommt bereits in der Exposition den Täter zu Gesicht. Dieser „Sniper“ ist tatsächlich weder ein Auftragsmörder noch eine psychopathische Persönlichkeit, sondern „er ist ein guter Mensch“, wie ihn ein ehemals weniger guter Mensch charakterisiert – freundlich, verbindlich, immer hilfsbereit und ein fürsorgender Partner. Antoine Monot jr. spielt diesen Michael-Kohlhaas-Charakter, dessen Antlitz die Geschichte noch verstörender macht, als sie schon ist. Ein liebenswerter Mensch, der dazu noch aussieht, wie man sich den Weihnachtsmann vorstellt, soll ein kaltblütiger Racheengel sein, ein Mann, der rot sieht!? Dass der Täter keine Killermaschine ist, sondern ein Mensch, mit dem man mitfühlen kann (seine Frau ist mehrfach von ihrem Chef vergewaltigt worden), tut dem Suspense gut. Denn so fiebert man nach einer Weile mit dem Mörder gleichermaßen mit wie mit der Polizei, man ist gespannt darauf, was jener Simon Amstad noch alles tun wird und – gerade weil er kein Profi ist – kann bei ihm auch mit Fehlern gerechnet werden. Und was Flückiger & Co angeht, stellt sich die Frage, wie sie diesen „kleinen Mann“ überführen werden. Tragik jedenfalls liegt von Anfang an in der Luft dieses Krimi-Dramas von Florian Froschmayer („Tatort – Borowski und die heile Welt“) nach dem Drehbuch von Urs Bühler („Tatort – Skalpell“).
Noch aus einem anderen Grund sollte man annehmen, dass „Ihr werdet gerichtet“ spannend ist: Wer gleich mit einem brutalen Doppelmord einsteigt, einen weiteren wenig später folgen lässt und mit der Möglichkeit spielt, dass es damit nicht genug ist, der hat natürlich schon qua Stoffauswahl die Option zur Spannung auf seiner Seite. Auch unterläuft, wie in anderen „Tatort“-Episoden aus Luzern geschehen, nicht ein mittelmäßiges, schwermütiges Drama die hohe Emotionalität dieses zwar düsteren, aber auch sehr physischen Krimidrama-Suspense-Thrillers. Das ohnehin schon hohe Erregungspotenzial der Story wird durch die Inszenierung, eine agile Kamera, dunkle Atmosphäre, den bedrohlichen Score, das beängstigend wirkende Sounddesign und durch den stimmigen Rhythmus, noch gesteigert. Auch die Kommissare doppeln die Tragik des Erzählten durch ihren Betroffenheitsgestus. Dieser Glaube an die 1:1-Abbildung von Gefühlen ist zwar alles andere als modernes Fernsehen, ist aber durchaus wirkungsvoll und nachhaltiger als andere – sprödere – Krimis aus Luzern, die einen kalt ließen. „Ihr werdet gerichtet“ ist ein heftiges Stück Fernsehen. Nicht zuletzt auch wegen der krassen Gewaltdarstellungen, die an die Grenze dessen gehen, was unter Jugendschutzaspekt um 20.15 Uhr hierzulande ausgestrahlt werden darf. Solche drastischen Körpertreffer gab es lange nicht zur Hauptsendezeit. Man sieht, wie das Blut spritzt, man hört es sogar, die Opfer werden von den manipulierten Geschossen geradezu weggeschleudert und von den Bildern der Wundmale und Blutlachen will die Kamera einfach nicht lassen. (Text-Stand: 9.8.2015)