Zwei Libyer brutal ermordet und dann stirbt Ringelhahns bester Freund
Ein grausiger Leichenfund. Zwei Libyer, Bruder und Schwester, sind mit einem Eisenrohr erschlagen worden. Der Täter muss sich in einen Blutrausch hineingesteigert haben. Die Opfer sind seit vielen Jahren in Deutschland, zwei unbescholtene Bürger, vorbildlich integriert. Der Tathergang könnte auf ein rechtes Gewaltverbrechen hindeuten. Aber auch ein Familiendrama ist denkbar. Die zugerichteten Körper wurden einer Waschung unterzogen und sorgfältig verpackt. Paula Ringelhahn (Dagmar Manzel), Felix Voss (Fabian Hinrichs) und Wanda Goldwasser (Eli Wasserscheid) ermitteln einen Ziehsohn des Libyers, Ahmad (Josef Mohamed), auch er offenbar ein mustergültiger Demokrat. Der junge Mann ist untergetaucht. Die Spurenanalyse ergibt: Er könnte am Tatort gewesen sein. War er Zeuge des Blutbads? War er Täter? Oder hätte er das Opfer sein sollen? Ahmad nämlich war es, der vor einigen Monaten Anzeige erstattete gegen drei junge Männer, die einen Pizzaboten in den Rollstuhl prügelten und wegen schwerer Körperverletzung zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Die Ermittlungen im Umfeld dieser drei „Halbstarken“ ergibt nichts als Schweigen. Und dann ist plötzlich Kommissarin Ringelhahn wie ausgewechselt. Ihr Kollege und jahrelang „bester Freund“, Frank Leitner (André Hennicke), ist in den Tod gerast, vollgepumpt mit Medikamenten. Als sich wenig später eine Verbindung zwischen dem brutalen Doppelmord und dem suizidverdächtigen Unfall ergibt und der offenbar nach rechts abgedriftete tote Freund etwas mit dem Mord zu tun haben könnte, wollen das weder die Kommissarin noch Leitners Frau (Ursula Strauss) wahrhaben. Und irgendwann rastet Ringelhahn aus.
Foto: BR / Luis Zeno Kuhn
Ausgerechnet die sonst so besonnene Kommissarin überschreitet eine Grenze
Ringelhahn und Voss gehören zu den menschlichsten Kommissaren im deutschen Fernsehen, ohne dabei je zu menscheln: zwei „ganzheitliche“ Ermittler, die in jedem ihrer bisherigen drei Fälle politisch und emotional Farbe bekannten, sich dem Partner gegenüber sympathisch weit öffneten und ihm mit großer Achtsamkeit begegneten, ja sogar die eigene Einsamkeit dem Kollegen offenbarten. Im „Tatort – Ich töte niemand“ verschmelzen nun all diese Merkmale auf hochdramatische Weise. Der neue Fall führt die beiden einmal mehr in jenen „rabenschwarzen Raum“, von dem Voss seiner Kollegin sein Leid klagt. Ihr Job sei eine Jagd, die immer damit endet, dass eine neue Jagd beginnt. Sieht so ein erstrebenswerter Lebensweg aus? Auf diese trüben Metaphern hat die lebenserfahrene Ringelhahn den Rat ihres Ausbilders in der DDR parat: „Schauen Sie nicht zu tief in die Dinge rein, sonst gucken sie zurück.“ Wenig später fällt ausgerechnet sie aus dem rabenschwarzen Raum in ein noch finstereres Loch. Die Panik treibt sie zu dem Glauben, allein mit einer reinigenden Explosion wieder zu ihrem Seelenfrieden gelangen zu können. Wie soll sich aber auch ein Mensch vernünftig und angemessen verhalten in einer Welt, die moralisch aus den Fugen geraten ist? Gezwungen in ein Klima, in dem Bluttat mit Bluttat vergolten wird, wo Rache zur Gewalt aus gutem Grund schöngeredet wird, stoßen auch Polizisten an ihre Grenzen und gehen notfalls darüber hinaus.
Foto: BR / Luis Zeno Kuhn
Schwarz wird zur Metapher – und die Ästhetik bringt langsam Licht ins Dunkel
Es gibt wenig Gewissheiten in diesem „Tatort“. Es gibt viele Bruchstücke in dieser kaputten Wirklichkeit, die die Kommissare zusammensetzen müssen. Dunkelheit bestimmt die Szenerie. Die Geschichte um den jungen Libyer schält sich förmlich aus der Finsternis heraus. Die in die Ermittlungen eingeschobene Parallelwelt dieses Mannes beginnt mit einem Schwarzbild; zu hören ist nur eine Stimme. Im Verlauf der Geschichte sieht man immer mehr von dem Versteck, in dem sich der Ziehsohn des Ermordeten aufhält, und von dem Mann, der sich um ihn kümmert. Die weitsichtige Inszenierung, farbentsättigt, dafür gelegentlich umso mehr Bewegung im Bild und die Kamera von Felix Cramer („Waffenstillstand“) nah an den Figuren, bringt im wahrsten Sinne des Wortes Licht ins Dunkel, sodass der Zuschauer mehr und mehr verstehen kann. Die Implizitheit dieser Erzählebene gehört zur dramaturgischen Methode von Max Färberböck („Aimée & Jaguar“), der mit „Der Himmel ist ein Platz auf Erden“, dem Franken-„Tatort“-Einstand, die Weichen gestellt hat für dieses angenehm umsichtige Duo und seine unaufgeregte Art des Ermittelns. Als Betrachter bewegt man sich nicht nur auf der Höhe des Falls, also auf Augenhöhe mit den Kommissaren, sondern man bekommt auch ein dezentes, ästhetisch attraktiv vermitteltes Mehrwissen verabreicht, mit dem man sich die Geschichte ein Stück weit selbst erschließen kann. Wer sich nur treiben lässt, für den häufen sich im Mittelteil die Fragezeichen, bevor wenig später „Clockwork Orange“-like eine Rückblende und ein Beinahe-Mord in einer furiosen Parallelmontage alles klar machen. Danach wendet sich Färberböck dem ideologischen Überbau der Geschichte bzw. dessen pervertierter Form zu, die in zwei ausgespielten Drama-Szenen (Nazi trifft Moslem, Manzel-Strauss-Solo) gipfeln, mit denen „Ich töte niemand“ das Krimikorsett grandios sprengt.
Foto: BR / Luis Zeno Kuhn
Missbrauch von Werten – darum geht es in dem „Tatort“:
„Dass neue und alte Rechte und der islamische Fundamentalismus Überschneidungen in einer autoritären Weltanschauung haben, ist nicht neu. Aber hier auf verblüffende Weise erzählt. Es geht um einen fatalen Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt. Jeder der Akteure beruft sich auf Werte, die so ultrakonservativ wie identitätsstiftend sind. Universelle Werte wie Würde, Ehre & Anstand. Wie sehr diese Werte im Verhalten pervertiert werden, davon erzählt der Film.“ (Redakteurin Stephanie Heckner)
Die Weltordnung ist gestört: Das muss sich auf die Filmsprache auswirken
Färberböcks Filme zeichnen sich häufig durch ihren besonderen Erzählrhythmus aus: Die flüssige Eleganz der Montage veredelte Filme wie den ersten Franken-Krimi oder die beiden Münchner „Tatort“-Episoden „Mia san jetz da wo’s weh tut“ und „Am Ende des Flurs“. Bei seinem neuen Werk fordert die Geschichte ihren Tribut. Der blutige Missbrauch moralischer Haltungen, „die dumpfe Missachtung menschlicher Grundwerte“ (Färberböck) und die weitgehende Ohnmacht der Kommissare bringt nicht nur die lebensweltliche Ordnung durcheinander, sondern wirkt sich folgerichtig auch auf die ästhetische Darstellung aus. Mit einer bruchlosen, in ihrer Wirkung harmonischen Montage ist dieser Wirklichkeit nicht beizukommen. Im Detail, innerhalb einzelner Sequenzen allerdings findet Färberböck überaus smarte Lösungen. Kurzbefragungen werden flott in ikonografisch hochwertigen Einstellungen zusammengeschnitten. Schuss-Gegenschuss-Passagen sind hier mehr als eine bloße Schnittkonvention, sie besitzen wie in einer Szene zwischen den Kommissaren und der Frau des toten Kollegen häufig auch einen erzählerisch semantischen Mehrwert.
Foto: BR / Luis Zeno Kuhn
Die Gewalt & ihr Ergebnis lassen sich mit Andeutungen & Atmosphäre darstellen
Auch verzichtet Färberböck in der Regel darauf, die Darstellung oder das Resultat von Gewalt akribisch genau zu zeigen. Die Erfahrung des Unerträglichen für die Protagonisten genauso wie für die Zuschauer lässt sich genauso gut mit Andeutungen und Atmosphäre darstellen. Auch in solchen Momenten setzt Färberböck auf den Zuschauer und dessen Imaginations-Kraft. Ein Beispiel dafür ist die Leichenfund-Szene zu Beginn des Films mit der sensiblen, pietätvollen Annäherung an den Tatort: Sinnliche Eindrücke von der Brutalität der Tat werden vermittelt, ohne den Blick auf die Leichen freizugeben. Parallel dazu erfährt der Zuschauer im Dialog das, was man über die Toten und den Akt der Tötung wissen sollte. Im Anschluss folgt eine knapp dreiminütige Autofahrt der Kommissare, in der Voss seine beruflichen Nöte (das Leben, jener „rabenschwarze Raum“) formuliert und die bodenständige Ringelhahn ihn zu mehr Optimismus („Mensch, Felix, nun sag’ doch einfach mal was Schönes“) zu bewegen versucht. Wie immer in den Krimis von Max Färberböck gibt es also auch in „Ich töte niemand“ eine handvoll Szenen, die man als Zuschauer nicht so schnell vergessen wird. Und dementsprechend besitzt auch die Geschichte einen langen Nachhall. (Text-Stand: 19.3.2018)