Ausnahmezustand bei der Kölner Kripo. Ein ehemaliger Gymnasiallehrer hat Besatzung und Passagiere eines Ausflugsschiffs als Geiseln genommen. „Ich werde das Schiff in die Luft sprengen, wenn Sie meinen Forderungen nicht nachkommen“, droht Daniel Huberty (Stephan Kampwirth). Der Mann fordert weder Lösegeld, noch scheint er einen Fluchtplan zu haben. „Ist er irre, ist er ein Clown?“, fragt sich Ballauf (Klaus J. Behrendt). „Einen Menschen hat er schon auf dem Gewissen“, betont Schenk (Dietmar Bär). Auch wenn der Tod eines Schiffs-Mechanikers in der Nacht zuvor kein Vorsatz war – diesem Mann ist alles zuzutrauen. Wegen Missbrauch einer 14jährigen Schutzbefohlenen ist er 2012 zu 18 Monaten Haft verurteilt worden. Danach rappelte er sich wieder auf, doch eine Nachhilfeschule für Kinder aus prekären Verhältnissen scheiterte, weil ihm wegen seiner Straftat gekündigt wurde. Jetzt haben sich auch noch seine Söhne von ihm abgewendet. Huberty sieht rot, fordert Gerechtigkeit. Sein Prozess sei ein abgekartetes Spiel gewesen, für das fünf Protagonisten verantwortlich seien: die Mutter seiner „Geliebten“, die Staatsanwältin (Christina Große), seine Ex-Frau (Antje Hamer), deren neuer Mann, ein in den Fall involvierter Sozialarbeiter (Enno Kalisch), und jener Vermieter, ein Immobilienmogul (Hannes Hellmann), der ihm gekündigt hat. Sie alle sollen auf das Schiff gebracht werden. Es gibt ein Ultimatum. Die Bombe tickt.
Foto: WDR / Thomas Kost
Die Macht einer Kränkung ist der Ausgangspunkt für den 84. „Tatort“ aus Köln, „Hubertys Rache“. In dem Film von Marcus Weiler („Der Kommissar und das Meer“) nach dem Drehbuch von Eva Zahn und Volker A. Zahn („Mobbing“, „Goldjungs“) inszeniert der Antagonist eine Situation, in der zum ersten Mal er, der zutiefst narzisstisch Gekränkte, am längeren Hebel sitzt. Er fühlte sich jahrelang gedemütigt. Seine Geiselnahme rechtfertigt er als eine Aktion zu seiner Rehabilitierung. Es ist „eine Art Privatprozess mit ihm als Geschädigtem, Staatsanwalt und Richter in einer Person“, so die Zahns im Presseheft. Der ehemalige Lehrer will öffentlich Gehör finden, indem er die fünf Menschen, die er für seinen Niedergang verantwortlich macht, ins Kreuzverhör nimmt, und dies per Live-Stream vom Schiff in die Welt hinaussendet. Doch es gibt Komplikationen. Die Mutter der von ihm missbrauchten Jana (Mathilde Bundschuh) ist verstorben, und diese möchte nicht als Ersatz einspringen. An Bord ist also vorerst nur die Staatsanwältin, die sich mit ihrer Tochter (Anna Bachmann) ohnehin auf dem Ausflugsschiff befindet. Von den anderen stellt sich allein der Sozialarbeiter. Aber es gibt ja Handys. Und es gibt Ballauf, der sich als Hubertys Ex-Vermieter ausgibt und bald Undercover im Einsatz ist. Was nach der erhofften Rehabilitierung passieren soll, ist unklar. Ist die Bombe dann noch eine Option? Gibt es sie überhaupt? Wenn ja, ist sie nur ein Druckmittel, um die Fünf aufs Schiff zu bekommen? Wirkt dieser Mann nicht doch zu empfindsam, um sich und seine Geiseln in die Luft zu sprengen? Und wer ist die bewaffnete Vertrauensperson an Bord, von der Huberty im ersten Telefonat gesprochen hat?
Viele Fragen. Das impliziert einen hohen Spannungsfaktor. „Hubertys Rache“ ist aber kein nur auf Suspense abzielender (Psychopathen-)Thriller. Das Motiv für die Geiselnahme und die kriminelle Aktion werden von Anfang an gleichrangig behandelt. Außerdem ist die Episoden-Hauptfigur sehr präsent, man erfährt viel über sie: Das eine sind die Fakten zur Person, die Jütte (Roland Riebelung) und Förster (Tinka Fürst) zusammentragen; das andere ist die momentane psychophysische Verfassung, in der sich Huberty befindet. Dieser „Tatort“ hält über die gesamten neunzig Minuten die äußere Bedrohungssituation und das psychologische Drama in einem für den Zuschauer sehr attraktiven Gleichgewicht. Man fragt sich also nicht nur, wie die Polizei diesen Geiselnehmer wohl überwältigen wird, sondern man will auch mehr wissen vom Prozess 2012, von den vermeintlichen Demütigungen und von dem, was der Ex-Lehrer noch immer als „Liebe“ bezeichnet. Welche Interpretation dieses Missbrauchs hat der Täter, welche das Opfer? Was denkt die damalige Staatsanwältin in dem Fall heute, was die Staatsanwältin, die mit Schenk und Ballauf zusammenarbeitet (Renan Demirkan)?
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Dem renommierten Autorenduo gelingt es, das Thriller-Genre mit dem Themenfilm, wie er Tradition hat im Kölner „Tatort“, zu versöhnen, ein attraktives, ungewöhnliches Szenario zu schaffen und gleichzeitig die Kommissare im Gegensatz zur letzten Episode „Vier Jahre“ wieder mehr ins Zentrum zu rücken. Das freut Behrendt-Bär-Fans, führt allerdings ab und an wieder zu diesen typischen Schenk- und Ballauf-Sätzen, den üblichen Ausrastern, dem Betroffenheitsgestus und den dazu gehörigen Gesichtsausdrücken und Blicken, die man von den beiden nur zu gut kennt. Die moralische Entrüstung der Kommissare, die auch diesmal wieder als Sprachrohr des gesunden Menschenverstands agieren, bekommt man bei so einer Geschichte und einem solchem Thema natürlich nicht raus; man würde sonst aber auch die Kommissare und ihre über ein Vierteljahrhundert gewachsenen Charaktere, ihre Mentalität und ihre vorbildlichen Haltungsnoten, verraten. Auch die Narration besitzt im Detail mitunter kleine Plausibilitätsprobleme (ein Immobilienmogul ohne ein einziges öffentliches Foto?!).
Glücklicherweise ist der Fall aber so packend, dass das alles übersehen werden kann und im spannenden Strudel von Krimi, Thriller und Drama untergeht. Und es wurde auch mal Zeit, dass sich ein „Tatort“ aus Köln auf den Rhein begibt (das Meiste wurde allerdings im Studio gedreht, so auch die Szenen unter Deck). Filmisch benötigt diese Geschichte keine außergewöhnliche Inszenierung: „Hubertys Rache“ lebt von seinem Antagonisten, stimmig verkörpert von Stephan Kampwirth, dem solche Verliererrollen liegen, aber auch von der Ausnahmesituation, der knappen erzählten Zeit und der wohl dosierten Entfaltung der Spannung, wozu auch das ständige sehr effektive Hin und Her zwischen den zahlreichen Schauplätzen beiträgt. Erst nach 30 Filmminuten erfahren die Passagiere, dass sie Geiseln sind. Kurz zuvor ist eine mögliche Rettungsaktion ins Leere gelaufen. Nach einer guten Stunde scheitert der nächste Versuch, Huberty auszuschalten. Von da an wird die Luft deutlich dünner unter Deck. Ein völlig betrunkener Bräutigam flippt aus und bringt Ballauf in Gefahr. Während der Kommissar anfangs deeskalierend auf den Geiselnehmer einwirkt, scheint er auf der Zielgeraden zu erkennen, dass psychische Eskalation eine Lösung sein könnte. Ein riskantes Unterfangen. Denn da ist ja auch noch diese bewaffnete Vertrauensperson.
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Die stärksten Momente hat der Film, wenn sich Krimi und Drama gegenseitig befruchten und hochschaukeln. Emotionaler Höhepunkt ist ein Video-Telefonat zwischen Täter und Opfer. Plötzlich sieht man Huberty bildschirmfüllend, bedrohlich, ein starkes Icon für seine Macht über Jana – auch jetzt noch nach zehn Jahren? Er möchte, dass sie den Bildschirm anstellt. „Bitte“, sagt er zärtlich, sanft, zu sehen nur seine Lippen, „Du würdest mich sehr glücklich machen“ (ein Satz, den er sicher auch vor zehn Jahren gesagt hat). Spätestens in diesem Gespräch wird die moralische Position endgültig geklärt. Und man kann sich als Zuschauer in seiner Haltung bestätigt fühlen. Anders haben es die „Tatort“-Kollegen aus dem Schwarzwald gemacht: In dem preisgekrönten „Für immer und dich“ erzählte Julia von Heinz ein ähnliches Thema als provokantes, pures Drama, ernsthaft, radikal, bisweilen irritierend – ohne moralischen Subtext, die Kommissare blieben am Rand. In „Hubertys Rache“ endet es eher menschelnd. Schenk und Ballauf sinnierend am Rhein. Fehlt nur noch die Imbissbude.