Wie legt man die Russenmafia und einen korrupten Kollegen aufs Kreuz?
Ein erhängter Lobbyist kommt rasch als Selbstmord zu den Akten. So hat Kommissarin Janneke (Broich) genügend Zeit, ihrem Kollegen Brix (Koch) hinterher zu schnüffeln. Dem konnte zwar kein Fehlverhalten nachgewiesen werden, was die tödlichen Schüsse angeht, mit denen er seinen ersten Fall bei der Mordkommission abschloss, dennoch muss er zunächst noch Innendienst schieben. Aber es ergeben sich neue Verdachtsmomente, denen Janneke nachgeht, allerdings im Alleingang, schließlich hat sie Brix zu verdanken, dass sie noch lebt. Finger (Horwitz), ein ehemaliger Kollege von der Sitte, bittet Brix um Hilfe; der aber lehnt ab. Finger hat von der Russenmafia eine Million Euro bekommen, die „Ware“ aber nicht geliefert, weil er den Preis noch höher treiben wollte. Jetzt wollen die Russen seinen Kopf. Einer von denen, die den Deal eingefädelt haben, Fingers Chef und Schwager Wolfgang Preiss (Justus von Dohnányi), erschießt daraufhin Finger. Er hat eigene Pläne, doch die werden erst einmal durchkreuzt von Janneke, die von ihm etwas über Brix’ Vergangenheit erfahren möchte. Für Preiss eine gute Möglichkeit, den eigenen Mord dem Ex-Kollegen in die Schuhe zu schieben.
Die redselige Frohnatur und der einsame Wolf vor dem Neuanfang
Im zweiten Fall des neuen „Tatort“-Teams aus Frankfurt arbeitet sich die Kommissarin mächtig an der Vorgeschichte ihres Kollegen ab, bevor beide dann doch noch den ziemlich aussichtslos erscheinenden Fall gemeinsam zu Ende bekommen. Die Russenmafia und einen korrupten, mit allen Wassern gewaschenen Revierchef aufs Kreuz zu legen, dazu noch die massiven Zweifel am Partner in Zaum zu halten – da muss man schon trickreich sein. Entsprechend komplex fällt die Dramaturgie des Krimis inklusive seiner Auflösung aus. Die treibende Kraft in „Hinter dem Spiegel“ ist Margarita Broichs Anna Janneke. Sie, die Seiteneinsteigerin bei der Mordkommission, gibt ein bisschen die Unbedarfte, so nach dem Motto: „da frag ich doch mal ganz direkt ins Gesicht“ oder „da stell ich mich einfach mal ganz dumm und naiv“. Inwieweit das Masche ist oder tatsächlich nur die Mentalität der Figur widerspiegelt, bleibt abzuwarten. Sie ist jedenfalls die Frohnatur, das Gegenbild zu den Männern mit ihren Pokerfaces. Sie ist die Redselige; dagegen ist Kollege Brix eher der Geheimniskrämer, der typisch männliche Schweiger, der seine Probleme im Schnaps ersäuft. Dieser Kommissar will den „Neuanfang“ – etwas, was sein Vorgänger, der einsame Wolf, Joachim Króls Steier, nicht nur nicht hinbekommen, sondern auch gar nicht angestrebt hat.
Genre-Verständnis und Charaktere – grundsätzlicher, tiefer, existenzieller
Autor Erol Yesilkaya erzählt in seinem dritten „Tatort“ (zuletzt mit Michael Proehl: „Das Haus am Ende der Straße“) von den kleinen schmutzigen Kämpfen an den Rändern zwischen Recht und Unrecht, davon, ob man Polizist sein kann, auch ohne sich die Finger schmutzig zu machen, und ob Loyalität und Vertrauen noch Werte sind, die überall bei der Polizei vorausgesetzt werden können. Das zu verhandeln und nicht gleich zur Tagesordnung – sprich: dem nächsten Mordfall – überzugehen, ist genretechnisch klug. So werden nicht nur die Konventionen des TV-Krimis erst einmal hinterfragt, sondern es werden auch die neuen Kommissare samt ihres Chefs, der sich als loyal entpuppt, auf ihre moralische Integrität hin abgeklopft. Dadurch lernt sich das Team „grundsätzlicher“ kennen, wächst geradezu existentiell zusammen, und es ermöglicht dem Zuschauer sinnliche Einblicke und Einsichten, die tiefer sind, als wenn sie nur mittels Figurenlegende und Backstory behauptet wären.
Spannende Erzählperspektiven, dichte Dramaturgie, unerwartete Wendungen
Hielt sich das Vorgänger-Duo in Frankfurt oft an reale Fälle, liegt die besondere Stärke dieses „Tatorts“ in seiner hohen Fiktionalität, in seiner ästhetischen Erfindungskraft. Kriminelle Parallelwelten, die man auf ihren Realitätsgehalt abklopfen kann, werden die Zuschauer in „Hinter dem Spiegel“ vergeblich suchen. Herausragend ist dafür das Spiel mit den Erzähl-Perspektiven, die Informations- und Spannungspolitik. Die unterschiedlichen Wissensstände der drei Hauptfiguren (und das Mehrwissen des Zuschauers, was den Mord an Finger angeht) und die daraus resultierende dichte Dramaturgie mit ihren unerwarteten Wendungen sind das Salz in der Suppe dieses Krimis. Irgendwann hat die Kommissarin die Spielchen satt und bringt Brix und Preiss, die sich gegenseitig des Mordes an Finger verdächtigen, zusammen: „So, Sie suchen den Mörder von Simon Finger und Sie suchen den Mörder von Simon Finger. Das können Sie jetzt wunderbar zusammen machen.“ Der Krimi wird zum Thriller.
Ein gejagter Doppelgänger, eine lebensgefährliche Dreiecksermittlung
Zwischen Bahnhofsviertel und Kommissariat, zwischen Schrottplatz und Chefetage bewegt sich dieser spannende, dynamisch strukturierte „Tatort“, der schon im Vorspann zu rhythmischen Electro-HipHop-Klängen das Abbild der Wirklichkeit durch die Symmetrie bizarrer Spiegelungen jagt. Dopplungseffekte auch in der Geschichte: Sagt man gegen jemanden aus, der einem das Leben gerettet hat? Beide Kommissare müssen sich mit dieser Frage auseinandersetzen. Intelligent und irrwitzig wird das Doppelgängermotiv eingesetzt: Um das Dreiecksspiel zwischen Janneke, Brix und Preiss in Gang zu setzen, darf Fingers Leiche nicht sofort gefunden werden. Autor Yesilkaya lässt einen Mann die Leiche finden, der die Identität des toten Polizisten annimmt, damit er seiner Spielsucht leichter nachgehen kann. Aber wer will schon Doppelgänger eines Mannes sein, der auf der Abschussliste der Russenmafia steht?! Dieser Clan, der mit Hilfe eines Freizeitparks sein Geld waschen will, wird im Übrigen wunderbar amüsant in Szene gesetzt. Und der Pate ist eine Frau. Schön gegen den Strich des 08/15-Chefs ist auch Roeland Wiesnekkers Riefenstahl gebürstet.
Wer Broich, Koch, Wiesnekker & von Dohnányi hat kann sich glücklich schätzen
Ironie ist in „Hinter dem Spiegel“ nicht Aufgabe der Figuren wie beispielsweise beim „Tatort“ Münster, Ironie durchzieht die Dramaturgie. „Jeder Mensch hat seinen Preis“, weiß Janneke. Also entschließen sie und Brix sich dazu, sich von der Russenmafia kaufen zu lassen. Zum klassischen Ermitteln bleibt da wenig Zeit. Das passiert weitgehend im Off – und eine Szene muss reichen, um dem Zuschauer die nötigen Erklärungen über die Hintergründe zu geben. Das erfolgt spielerisch – am Rande zur Krimi-Parodie. Wer Broich, Koch, Wiesnekker und von Dohnányi hat kann sich glücklich schätzen. Regisseur Sebastian Marka hat nach „Das Haus am Ende der Straße“ nun schon seinen zweiten furiosen „Tatort“ 2015 vorgelegt: einfallsreich, mit feiner Akzentuierung zwischen Tempo- und Ruhemomenten, bild- und dialoglastigen Szenen, mit sinnlichen Flashbacks und mit einer insgesamt bemerkenswerten Dynamik. Das ist Top-Krimi-Unterhaltung auf der Höhe der Zeit. (Text-Stand: 18.8.2015)